Das Mädchen von San Marco (German Edition)
unserer Mutter Oberin?«
»Du weißt es nicht? Sie ist tot!« Francesca bekreuzigte sich schnell. »Unsere Ehrwürdige Mutter Oberin ist entschlafen. Vor einer halben Stunde.«
»Suor Bonifacia?« Annetta schien momentan unfähig, selbst die einfachsten Dinge zu erfassen. »Tot? Das ist unmöglich! Ich habe erst vor ein paar Tagen mit ihr gesprochen!«
»Aber es stimmt, und es kam ganz plötzlich. Poverina! Ein Fieber, wie ich gehört habe. Suor Chiara hat es auch.« Francesca versagte die Stimme und sie schüttelte traurig den Kopf. »Die gütige Dame war eine Heilige! Möge ihre Seele in Frieden ruhen.«
»Suor Bonifacia war alt«, mischte sich Ursia flüsternd ein, die ein etwas pragmatischeres Naturell hatte. »Die Frage ist, wer wird unsere neue Mutter Oberin?«
Sie blickte in Richtung Suor Purificacion, die bereits zum Gebet am Altar kniete.
»Darüber muss natürlich abgestimmt werden. Im Ordenskapitel. So wird es doch immer gehalten.«
»Nun, meine Stimme bekommt sie nicht …«
In das aufgeregte Flüstern von Francesca und Ursia stimmten noch weitere Chornonnen ein. Annetta nahm sie kaum wahr. Ihr dröhnten die Ohren. Sie konnte die Stimmen nicht ertragen, sie musste sie ausblenden und unbedingt in Ruhe nachdenken. Im Augenblick war es ihr vollkommen gleichgültig, wer die neue Äbtissin des Klosters werden würde. Sie vermochte noch nicht einmal eine Träne über Suor Bonifacias Tod zu vergießen. Sie kniete nieder und vergrub das Gesicht in den Händen, als wäre sie ins Gebet vertieft.
Annettas Gedanken drehten sich im Kreis. Sie konnte nur noch an eines denken: Der Blaue Stein des Sultans! War er der Grund, warum dieser John Carew ins Kloster gekommen war? Was mochte er wohl darüber wissen? Hatte man sie etwa ausfindig gemacht? Sie hätte geschworen, dass sie im Kloster sicher war, dass niemand auch nur auf die Idee kam, hier nach ihr zu suchen, aber jetzt … Annetta spürte, wie panische Angst sie ergriff.
Endlich war der Priester eingetroffen. Er stand am Altar, sprach Gebete und bat die Nonnen, sich ihrer heimgegangenen Schwester zu erinnern, woraufhin sich die Stimmen der Nonnen erhoben und den Tod der Äbtissin beklagten. Annetta bemühte sich verzweifelt, ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart zu lenken. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Suor Bonifacia wohl auf ihrem Totenbett aussah, sie versuchte, sich dieses Gesicht vorzustellen, das sogar im hohen Alter noch so viel Schönheit ausstrahlte – das silberne Haar, das auf einem Kissen ausgebreitet lag. Doch immer wieder schob sich ein anderes Bild vor das der alten Dame: der leblose Körper der toten Valide.
Annetta erinnerte sich an den Schrecken, der sie erfasst hatte, als sie in das halb geöffnete Auge der toten Sultansmutter geblickt hatte, das ihr in den blaugrünen Schatten des Schlafgemachs zuzublinzeln schien. Sie erinnerte sich an deren harte, kalte, klauenähnliche Hand, die den Diamanten umklammerte, und daran, wie sie verzweifelt an dem toten Fleisch gerissen hatte, um das Juwel dem eisernen Griff zu entwinden. Und sie erinnerte sich daran, wie sie den gestohlenen Diamanten heimlich in ihr Beutelchen gesteckt hatte.
Kapitel 28
In jener Nacht wachte Annetta davon auf, dass jemand an ihr rüttelte.
»Gänschen?« Mit einem Ruck schreckte sie hoch und schaute verwirrt umher. »Bist du das?«
»Wen nennst du Gänschen?«, flüsterte eine schlaftrunkene Stimme neben ihr. »Ich bin’s, Eufemia. Du hast wieder im Schlaf geredet.«
»Tut mir leid. Habe ich dich geweckt?«
»Hast du wieder von deiner Freundin Kaya geträumt? Von der, an die ich dich erinnere?«
Annetta runzelte die Stirn. »Sie heißt nicht Kaya.«
»Aber du hast gesagt –«
»Habe ich auch. Aber Kaya war nicht ihr richtiger Name. Sie hieß in Wahrheit Celia Lamprey.«
»Klingt fremdländisch.«
»Ja.«
»Und – hast du von ihr geträumt?«
»Ja.«
»Dann war es also ein guter Traum?«
»Ich … es ist …« Annetta zögerte. »Es ist nicht so einfach.«
Die kleine conversa vertraute der Menschenkenntnis, die ihre bäuerliche Herkunft ihr mitgegeben hatte, blieb ruhig neben Annetta liegen und wartete, bis diese weitersprach.
»Es war kein richtiger Traum, eher eine Erinnerung. Eine Erinnerung an unser letztes Zusammensein«, begann Annetta schließlich.
»Ist das etwas Schlimmes?«
Annetta antwortete nicht. Sie war jetzt vollkommen wach, lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. In den ersten Momenten nach dem Erwachen
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