Das Magdalena-Evangelium: Roman
ein Mensch ertragen konnte. War es recht, dass so ein schönes Mädchen wie Rachels Tochter in derselben Nacht sterben sollte wie ihr geliebter Sohn?
»Aber wartet, Herrin, das ist noch nicht alles. Rachel trug mir auf, Euch zu sagen, dass Isa, der Heiler der Nazarener, heute Abend noch in ihr Heim kommen wird. Selbst wenn man für Smedia nichts mehr tun kann, muss es für Pilo noch nicht zu spät sein.«
Claudia hatte wenig Zeit, die Folgen zu bedenken. Pilos Leben hing am seidenen Faden. »Hülle ihn ein, und trage ihn zum Wagen. Schnell, beeile dich!«
Der Grieche, der auch Erzieher des Jungen war und seinen Zögling liebte, hüllte Pilo sanft in eine Decke und brachte ihn zum Wagen. Claudia lief hinterdrein. Sie hinterließ keine Nachricht für Pilatus, weil sie nicht annahm, dass er ihr Fortgehen bemerken würde. Außerdem konnte sie eine solche Entscheidung durchaus allein treffen. War sie nicht selbst Enkelin eines Kaisers?
Pilo hielt durch, er atmete noch schwach, als der Grieche und seine Mutter ihn in den Armen hielten. Claudia hatte sich in einen dichten Schleier gehüllt, da sie unter der Trauergemeindein dem jüdischen Haus nicht auffallen wollte. Der griechische Sklave steuerte den Wagen so rasch wie möglich durch die Menschenmenge, sprang dann vom Bock und half seiner Herrin, zu Fuß mit dem Kind durchzukommen.
Die Menge war angewachsen, denn es hatte sich die Nachricht verbreitet, dass der wundertätige Messias aus Galiläa erwartet werde, und auf den Straßen drängten sich sowohl Gläubige als auch Schaulustige. Doch die drei aus der Festung Antonia drängten sich entschlossen zum Vorhof des Hauses durch.
»Wir möchten zu Rachel, der Frau des Jairus«, meldete der Grieche. »Bitte sagt Rachel, dass ihre liebe Freundin Claudia gekommen ist.«
Die Hoftür öffnete sich, doch Zutritt wurde nicht ohne Weiteres gewährt. Judas stand an der inneren Tür Wache. Er hatte dem Mann am Hoftor gesagt, niemand dürfe das Zimmer der Toten betreten, bevor Isa es verlassen hatte. Judas wollte keine Zeugen, und er wollte Isa damit schützen. Jairus war Pharisäer, und einige Beobachter vom Tempel – Männer, die den Nazarenern nicht eben freundlich gesonnen waren – hatten um das Haus Posten bezogen. Falls Isa Smedia nicht wieder zum Leben erwecken konnte, würden sie ihn als Betrüger verdammen. Falls er hingegen mit seinen Bemühungen Erfolg hatte, würden sie ihn der Hexerei oder sonstiger Zauberkünste beschuldigen, und diese Anklage würde nicht nur Isa, sondern auch Jairus schaden – und konnte nach dem Augenzeugenbericht eines voreingenommenen Pharisäers die Todesstrafe nach sich ziehen. Daher war es am sichersten, alle außer der Familie von dem Zimmer fernzuhalten.
Claudia Procula hörte nur, wie Judas kurz angebunden »Noch keine Besucher!« sagte. Doch da er die Tür öffnete, konnte sie einen Blick ins Zimmer werfen. Sie sah Smedia auf ihrem Totenbett. Der weiße, stille Leichnam war von dichten Weihrauchschwaden umhüllt. Rachel saß neben dem Bett und hielt die Hand ihres Kindes, den Kopf unter der Last unerträglichenKummers gebeugt. Eine Frau mit dem roten Schleier der Nazarener-Priesterinnen stand neben Rachel wie ein Turm aus Stärke und Mitleid. Jairus, den Claudia nur als stolzen und starken Mann kannte, war auf dem Boden zu Füßen von Isa dem Nazarener zusammengebrochen. Er flehte ihn an, seiner Tochter zu helfen.
Später, nachdem sich die Ereignisse jener Nacht gesetzt hatten, konnte Claudia Procula ihren ersten Eindruck von Isa in Worte fassen. »Noch nie habe ich so etwas gefühlt«, sagte sie. »Bei seinem Anblick wurde ich so ruhig, als hätte ich die Menschwerdung von Liebe und Licht erlebt. Selbst in jenem kurzen Augenblick wusste ich, was er war: Er war mehr als ein Mensch, und in seiner Gegenwart zu sein – wenn auch nur für Sekunden –, versah uns mit einem Segen für die Ewigkeit.«
Die Tür wurde nicht wieder zugeschlagen, wie Claudia befürchtet hatte. Judas kümmerte sich um den trauernden Jairus, und der Wächter am Tor war zu fasziniert von den Vorfällen im Zimmer, als dass er eingeschritten wäre.
Ergriffen sah Claudia zu, wie Isa neben das Bett trat. Er schaute die Frau mit dem roten Schleier an – seine Ehefrau Maria Magdalena, wie Claudia später erfahren sollte. Dann legte er Rachel die Hände auf die Schultern. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, unhörbar für die anderen, und erreichte, dass Rachel zum ersten Mal den Kopf hob. Dann beugte sich Isa
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