Das Magdalena-Evangelium: Roman
über das Mädchen und küsste es auf die Stirn. Er nahm Smedias Hand in seine Hände und begann mit geschlossenen Augen zu beten. Nach einer langen, schweigenden Minute, in der niemand im Zimmer zu atmen wagte, wandte sich Isa zu Smedia und sagte: »Mädchen, steh auf!«
Claudia erinnerte sich nicht genau an die nachfolgenden Ereignisse. Es war wie in einem seltsamen Traum, dessen man sich jedes Mal ein wenig anders erinnert. Zuerst regte sich Smedia sehr langsam, doch dann setzte sie sich auf und rief nach ihrer Mutter. Rachel und Jairus stießen einen Schrei aus und umarmtendie Tochter. Claudia wurde bewusst, dass sie auf die Knie gefallen war. Die Menschenmenge vor dem Tor geriet in Bewegung. Die Nazarener und die Freunde der Familie bejubelten das Wunder von Smedias Auferstehung. Doch es waren auch Buhrufe und Zischlaute zu hören, mit denen die Pharisäer und die Gegner der Nazarener Isas Werk als Gotteslästerung verurteilten.
Claudia bekam es mit der Angst zu tun. Durch den Sog der Menge wurden sie und der Grieche von der Türschwelle gedrängt und aus dem Hof gezerrt. Pilo war todkrank, und sie wusste, dass er jeden Moment, womöglich auf den Stufen von Jairus’ Haus, sterben konnte. Es war ein Wagnis, ja grausam gewesen, den Kleinen hierherzubringen, wenn er stattdessen den letzten Atemzug friedlich in seinem Bett hätte tun können. Und nun war all ihre Anstrengung vergeblich gewesen. Der Nazarener wurde von seinen Anhängern aus dem Haus geleitet, und Claudia war durch die Menge von ihm getrennt.
Doch als sie alle Hoffnung schwinden sah, fiel ihr Blick auf Maria Magdalena, die plötzlich mitten in der Menge innehielt. Etwas geschah zwischen ihnen, die mystische Verbindung zwischen Müttern in schweren Zeiten. Einen langen Moment schauten sie sich in die Augen, dann sah Maria das Kind in den Armen des Griechen. Schweigend legte sie Isa eine Hand auf die Schulter. Er blieb stehen und wandte sich um. Kurz fand er Claudias Blick, dann lächelte er, ein Lächeln voller Hoffnung und Licht. Claudia hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange es währte, denn die Stimme ihres Sohnes riss sie aus ihrer Versunkenheit.
»Mama! Mama!« Pilo wand sich in den Armen des Griechen. »Lass mich runter!«
Claudia sah, dass die Züge ihres Jungen wieder Farbe angenommen hatten. Gesundheit und Kraft schienen zurückgekehrt zu sein. In weniger als einem Augenblick war Pilatus’ und Claudias sterbender Sohn wieder genesen. Und das war noch nicht alles. Als die Füße des Kindes den Boden berührten, sahenClaudia und der Grieche, dass sein Bein gerade gerichtet war. Auf zwei starken Beinen marschierte Pilo auf seine Mutter zu. »Schau mal, Mama! Ich kann laufen!«
Claudia umarmte ihren wunderschönen Jungen, während sie dem Nazarener und seiner Frau nachblickte, die in der Menge verschwanden.
»Ich danke euch«, flüsterte sie. Und obgleich sie die beiden nicht mehr sah, wusste Claudia, dass sie sie gehört hatten.
Pilos Heilung war für Pilatus ein zweischneidiges Schwert. Zum einen war er froh, seinen Sohn von Krankheit und Gebrechen geheilt zu sehen. Der Junge war nun heil auf eine Art, die weder er noch Claudia je für möglich gehalten hätten. Nun war er der rechtmäßige Erbe seines römischen Vaters, ein Junge, der ein Mann und ein Soldat werden konnte. Aber die Art der Heilung beunruhigte den Prokurator. Und schlimmer noch: Claudia und Pilo waren nun wie besessen von diesem Nazarener, der sowohl den römischen Behörden als auch den Hohepriestern ein Dorn im Auge war.
Pilatus hatte sich auf Bitten der Priester am Morgen mit Kaiphas und Hannas getroffen, um über das Vorkommnis am Osttor zu sprechen, das solch eine Menschenmenge angelockt hatte. Der Nazarener war, genau wie von einem ihrer jüdischen Propheten vorhergesagt, auf einem Esel angeritten gekommen und hatte die Priester mit seiner Verkündigung verstört, er sei der Messias. Zwar waren die religiösen Zwiste der Juden nicht Pilatus’ Problem, doch Gerüchte besagten, der Nazarener nenne sich König der Juden, und dies war Verrat am römischen Kaiser. Pilatus sah wachsenden Druck auf sich zukommen, etwas gegen Isa zu unternehmen, wenn der zum Paschafest wieder in die Stadt kommen und Aufsehen erregende Dinge tun wollte.
Um die Sachlage noch komplizierter zu machen, hatte auchHerodes, der Tetrarch von Galiläa, Pilatus eine vertrauliche Botschaft bezüglich Isa geschickt. »Wie mir berichtet wurde, will dieser Mann sich zum König über alle Juden
Weitere Kostenlose Bücher