Das Magdalena-Evangelium: Roman
zurückdachte,durchfuhr es sie wie ein elektrischer Schlag; es war das seltsame Gefühl, das sie immer bei einer Prophezeiung befiel – die Warnung vor dem Blick in die Zukunft. Maria schloss die Augen und versuchte, das Bild einzufangen, doch es versagte sich ihr. Sie war zu müde, oder vielleicht war es ihr nicht bestimmt, es zu sehen.
Was könnte es sein? Isas Ruf als Heiler war in den letzten drei Jahren durch ganz Israel gedrungen. Das Volk ehrte ihn für diese Gabe. Und in letzter Zeit schien es ihm kaum noch Mühe zu bereiten; die heilende Kraft Gottes durchströmte Isa mit einer Leichtigkeit, dass es eine Freude anzusehen war.
Hatte Isa nicht ihren Bruder geheilt, nachdem er von Bethaniens Ärzten für tot erklärt worden war? Im Vorjahr waren Maria und Isa aus Galiläa angereist, nachdem Martha ihnen Nachricht von Lazarus’ schwerer Erkrankung geschickt hatte. Die Reise hatte länger gedauert als geplant, und als sie in Bethanien eintrafen, war Lazarus bereits in den Geruch des Todes eingehüllt. Alle fürchteten, es sei zu spät. Isas Kräfte waren zwar erstaunlich, aber nie hatte er einen Menschen von den Toten auferweckt. Das konnte man von niemandem verlangen, sei er nun der Messias oder nicht.
Doch Isa trat mit Maria in Marthas Haus und sagte den Frauen, sie sollten an ihrem Glauben festhalten und mit ihm beten. Dann ging er allein in Lazarus’ Kammer und begann über der Leiche seines Schwagers zu beten.
Als er aus der Kammer kam, sah er die bleichen Gesichter von Maria und Martha. Er lächelte ihnen ermutigend zu und wandte sich dann zum Totenzimmer. »Lazarus, lieber Bruder, stehe auf von deinem Lager, und begrüße deine Frau und deine Schwester, die mit solcher Inbrunst gebetet haben, dass du uns zurückgegeben wirst.«
Und Martha und Maria sahen Lazarus langsam durch die Tür treten, blass und schwach, aber sehr lebendig.
Nachdem die Nachricht von der wunderbaren Auferstehungdes Lazarus in Bethanien die Runde gemacht hatte, wurde die ganze Nacht gefeiert. Die Reihen der Nazarener-Anhänger mehrten sich, nachdem Isas gute Werke im ganzen Land bekannt worden waren. Er setzte den Weg der Heilung fort und taufte bei Jericho neue Jünger im Jordan, wie Johannes es gelehrt hatte. Unzählige Menschen wollten getauft werden, und die Nazarener blieben länger als geplant an den Ufern des Jordan.
Dass Isa nun offen in Johannes’ Fußstapfen trat, gefiel den Gemäßigten, die darum beteten, dass er wirklich ihr Messias sein möge. Selbst Herodes Antipas, der Tetrarch von Galiläa, hatte verkünden lassen, dass er in Isa den Geist des Täufers wieder aufleben sehe. Doch nicht alle waren von der Entwicklung begeistert. Herodes’ Billigung Isas wurde von den frommen Anhängern des Johannes und den Fanatikern unter den Essenern gleichermaßen mit Argwohn betrachtet. Im Stillen verfluchten sie Isa dafür, dass er die Position des Johannes eingenommen hatte. Ihr schlimmster Zorn richtete sich jedoch nicht auf den Nazarener, sondern auf die Frauen in seinem Gefolge.
Am nächsten Tag stürzte Maria Magdalena am Ufer des Jordan zu Boden; sie hielt vor Schmerzen ihren Bauch umklammert. Während die Anhänger sich um sie scharten, übergab sie sich heftig. Isa kam sofort herbeigeeilt, als er hörte, seiner Frau gehe es nicht gut.
Auch die Hohe Maria begleitete diesmal den Zug; sie kümmerte sich sogleich um Maria Magdalena. Eingehend beobachtete sie die Schwiegertochter, begutachtete die Symptome, wiegte die junge Frau in ihren Armen. Dann wandte sie sich an ihren Sohn. »Ich habe so etwas schon gesehen«, sagte sie ernst. »Dies ist keine natürliche Krankheit.«
Isa nickte; er hatte verstanden. »Gift.«
Die Hohe Maria bestätigte dies und fuhr fort: »Aber nicht irgendein Gift. Ihre Beine sind gelähmt, siehst du? Sie kann ihre untere Hälfte nicht bewegen, und durch das Würgen haben sich ihre Eingeweide verkrampft. Es handelt sich um einorientalisches Gift, das ›Gift der sieben Teufel‹, ein Name, der seine sieben tödlichen Bestandteile bezeichnet. Es tötet langsam, und das Opfer stirbt unter großen Schmerzen. Es gibt kein Gegenmittel. Du wirst mit Gottes Hilfe wirken müssen, um sie zu retten, mein Sohn.«
Die Hohe Maria gebot den Leuten, sich zurückzuziehen, damit Isa in Ruhe die Heilung seiner Frau durchführen konnte. Er hielt Marias Hände und betete; betete, bis er das Gift aus ihrem Körper strömen fühlte, bis Marias Gesicht wieder Farbe annahm. Während Isa Gottes Werk
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