Das Magdalena-Evangelium: Roman
etwa um jene Zeit aus den Legenden.«
Die Historikerin und Journalistin in Maureen war vollkommen überwältigt. »Gibt es irgendwelche Bücher, die Sie mir empfehlen könnten? Dokumente, die ich studieren kann, wenn ich schon einmal in Frankreich bin? Irgendetwas, was mir mehr Einblick in das alles gewährt?«
Der Franzose lachte leise und zuckte mit den Schultern. »Mademoiselle Paschal, hier im Languedoc geht alles mit mündlicher Überlieferung. Die Menschen beschützen ihre Geheimnisse und Legenden, indem sie sie nicht zu Papier bringen. Ich weiß, dass es für viele schwer zu verstehen ist. Aber sehen Sie sich um, chérie . Wer braucht Bücher, wenn man all das hat, um eine Geschichte zu erzählen?«
Sie hatten die Spitze des Berges erreicht, und vor ihnen lagen die Ruinen der einst mächtigen Festung. In Gegenwart dieser massiven Steinmauern, die die Geschichte ihrer Umgebung förmlich auszustrahlen schienen, verstand Maureen perfekt, was Jean-Claude meinte. Trotzdem war sie zwischen ihrer sinnlichen Wahrnehmung und dem journalistischen Bedürfnis nach Authentifizierung aller Entdeckungen hin und her gerissen. »Das ist eine seltsame Aussage für einen Mann, der sich selbst einen Historiker nennt«, bemerkte sie.
Jetzt lachte er lauthals auf, ein Geräusch, das durch das grüne Tal unter ihnen hallte. »Ich betrachte mich selbst zwar als Historiker, aber nicht als Akademiker. Da gibt es einen Unterschied, besonders an einem Ort wie diesem. Akademiker haben nicht überall ihren Platz, Mademoiselle.«
Maureens Gesichtsausdruck musste ihm verraten haben, dass sie ihm nicht ganz folgen konnte.
»Um die prestigeträchtigsten Titel in der akademischen Welt zu bekommen, muss man schlicht all die richtigen Bücher lesen und die richtigen Artikel schreiben. Auf einer Vorlesungsreise in Boston habe ich eine Amerikanerin kennen gelernt, die als Dozentin für französische Geschichte mit Schwerpunkt mittelalterliche Ketzerei gearbeitet hat. Inzwischen wird sie als eineder größten Expertinnen zu dem Thema betrachtet und hat sogar ein oder zwei Bücher darüber geschrieben. Und wissen Sie, was das Komische daran ist? Sie war nie in Frankreich, nicht ein einziges Mal. Noch nicht einmal in Paris, geschweige denn im Languedoc. Schlimmer noch: Sie hält es nicht für notwendig. Auf typisch akademische Art glaubt sie, dass alles, was sie in den Büchern oder Dokumenten der Universitätsdatenbanken liest, vollkommen ausreichend ist. Das Bild der Frau von den Katharern ist genauso realistisch wie ein Comic und doppelt so lächerlich. Und doch gilt sie in der Öffentlichkeit als größere Autorität auf diesem Gebiet als jeder von uns hier, weil sie über die notwendigen akademischen Titel verfügt.«
Maureen hörte weiter zu, während sie zwischen den Felsen hindurch an den mächtigen Ruinen vorbeikletterten. Jean-Claudes Worte trafen sie schwer. Sie hatte sich selbst immer als Akademikerin betrachtet, und tatsächlich waren es ihre journalistischen Instinkte gewesen, die sie immer wieder dazu getrieben hatten, alles vor Ort zu erkunden. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, über Maria Magdalena zu schreiben, ohne das Heilige Land besucht zu haben, und sie hatte darauf bestanden, Versailles und das Revolutionsgefängnis Conciergerie zu sehen, während sie an Marie-Antoinette gearbeitet hatte. Und nun, schon nach nur wenigen Tagen in der lebendigen Geschichte des Languedoc, hatte sie bereits erkannt, dass dies eine Kultur war, die ein außergewöhnliches Verständnis verlangte.
Jean-Claude war noch nicht fertig. »Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben. Sie können fünfzig verschiedene Versionen der Tragödie nachlesen, die sich hier in Montségur abgespielt hat; aber schauen Sie sich um. Wenn Sie nie auf diesen Berg hinaufgestiegen wären, wenn Sie nie den Ort gesehen hätten, wo das Feuer gebrannt hat, oder die undurchdringlichen Festungsmauern, wie sollten Sie das je verstehen? Kommen Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Maureen folgte dem Franzosen zum Rand, wo die Mauernder einst uneinnehmbaren Festung eingefallen waren. Er deutete über die Klippe hinweg den schier unvorstellbar steilen Hang hinunter, der Tausende Fuß weit hinabreichte. Der warme Wind frischte auf und ließ Maureens Haar flattern, während sie versuchte, sich in die Lage eines jungen Katharermädchens im dreizehnten Jahrhundert zu versetzen.
»An dieser Stelle sind die vier entkommen«, erklärte Jean-Claude. »Versuchen Sie einmal,
Weitere Kostenlose Bücher