Das Magdalena-Evangelium: Roman
sich das vorzustellen, nun, da Sie hier stehen. Mitten in der Nacht und mit den wertvollsten Reliquien Ihres Volkes auf dem Rücken, schwach nach Monaten des Hungers und der Entbehrungen. Sie sind jung und verschreckt und wissen, dass jeden, den Sie in dieser Welt lieben, der Tod auf dem Scheiterhaufen erwartet, verbrannt zu werden bei lebendigem Leibe. Während Ihnen all diese Gedanken durch den Kopf jagen, werden Sie an einem Seil eine steile Wand hinuntergelassen, in die bittere Kälte und die Schwärze der Mitternacht, mit einer großen Wahrscheinlichkeit, dass Sie zu Tode stürzen.«
Maureen stieß einen lauten Seufzer aus. Die Tatsache stieg ihr zu Kopf, hier zu stehen, wo diese Legenden lebendig und sehr, sehr real waren.
Jean-Claude riss sie aus ihren Gedanken. »Und jetzt stellen Sie sich vor, wie es wäre, in einer Bibliothek in New Haven einen Bericht darüber zu lesen. Das ist doch eine andere Erfahrung, oder?«
Maureen nickte zustimmend und antwortete: »Und wie.«
»Oh, eines habe ich vergessen zu erwähnen. Das jüngste Mädchen, das in jener Nacht entkommen ist, sie war vermutlich Ihre Vorfahrin. Diejenige, die später den Namen Paschal angenommen hat. Tatsächlich hat man sie bis zu ihrem Tod La Paschalina genannt.«
Und wieder ein neuer, fantastischer Paschal-Vorfahre. Maureen verschlug es fast die Sprache. »Wie … Wie viel wissen Sie über sie?«
»Nur wenig. Sie ist als alte Frau in einem Kloster in Montserratan der spanischen Grenze gestorben; dort gibt es noch ein paar Berichte über ihr Leben. Wir wissen, dass sie in Spanien einen anderen Katharerflüchtling geheiratet und eine Reihe von Kindern bekommen hat. Es steht geschrieben, dass sie ein unbezahlbares Geschenk ins Kloster gebracht habe, doch die Natur dieses Geschenks ist nie öffentlich verlautbart worden.«
Maureen griff nach unten und pflückte eine der Wildblumen, die zwischen den Ruinen wuchsen. Dann ging sie zum Rand der Klippe, wo sich das Katharermädchen, das später als La Paschalina bekannt werden sollte, mutig die Wand hinuntergelassen hatte, als letzte Hoffnung ihres Volkes. Maureen warf die winzige violette Blume über den Klippenrand und sprach ein kleines Gebet für die Frau, die vielleicht ihre Vorfahrin gewesen war oder auch nicht. Das machte schon fast gar nichts mehr. Mit der Geschichte dieses wunderbaren Volks und dem Geschenk des Landes selbst hatte dieser Tag sie ohnehin schon unwiderruflich verändert.
»Danke«, sagte sie zu Jean-Claude in kaum mehr als einem Flüstern. Er nickte und ließ sie erst einmal allein, um sie darüber nachdenken zu lassen, wie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft mit diesem uralten, rätselhaften Ort verbunden waren.
Maureen und Jean-Claude aßen in einem winzigen Dorf am Fuß des Montségur zu Mittag. Wie er versprochen hatte, servierte man in dem Restaurant Speisen in okzitanischem Stil. Sie bestanden hauptsächlich aus Fisch und frischem Gemüse.
»Es gibt die falsche Vorstellung, dass die Katharer strenge Vegetarier gewesen seien, aber Fisch haben sie gegessen«, erklärte Jean-Claude. »Bestimmte Dinge im Leben Jesu nahmen sie ausgesprochen wörtlich, und da Jesus bei mehreren Gelegenheiten Brot und Fische verteilt hat, leiteten sie daraus die Erlaubnis ab, Fisch essen zu dürfen.«
Maureen empfand das Essen als bemerkenswert herzhaft, und es machte ihr sichtlich Spaß. Sinclair hatte recht: Jean-Claude war ein brillanter Historiker. Maureen hatte ihm unzählige Fragen an den Kopf geworfen, als sie den Berg hinuntergestiegen waren, und er hatte sie alle mit erstaunlichem Wissen beantwortet. Als sie sich schließlich zum Essen gesetzt hatten, war sie froh gewesen, endlich einmal ein paar Fragen seinerseits beantworten zu können.
Jean-Claude begann mit Fragen über Maureens Träume und Visionen. Anfangs hätte sie das als unangenehm empfunden, doch hier im Languedoc, so schien es, wurden Visionen wie die ihren als vollkommen normal behandelt; sie waren schlicht Teil des Lebens. Es war eine große Erleichterung, mit diesen verständnisvollen Leuten darüber sprechen zu können.
»Haben Sie als Kind je Visionen gehabt?«, wollte Jean-Claude wissen.
Maureen schüttelte den Kopf.
»Sind Sie sicher?«
»Wenn ich das gehabt hätte, würde ich mich daran erinnern. Ich hatte keine, bis ich nach Jerusalem gefahren bin. Warum fragen Sie?«
»Ich war nur neugierig. Bitte, reden Sie weiter.«
Maureen erzählte ein paar Einzelheiten, denen Jean-Claude aufmerksam zuhörte, und
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