Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
nickte. Als sie die Taube losließen, flatterte diese ein paarmal, streckte den geheilten Flügel und erhob sich in die Lüfte. Sie schauten dem Vogel nach, der zuerst ein wenig unsicher war, dann jedoch mit kräftigen Flügelschlägen höher stieg. Schließlich landete er auf einem Ast und gurrte zu ihnen hinunter.
»Lorenzo, sieh nur! Sie ist auf einem Lorbeerbaum gelandet!«
Lorenzo konnte nur staunen – sowohl über den Ort, den der Vogel gewählt hatte, als auch über Lucrezias scharfsinnige Beobachtung der darin verborgenen Symbolik. Der Lorbeerbaum war sein persönliches Emblem, da das lateinische laurus und die lateinische Form seines Namens – Laurentius – dieselbe Wurzel hatten.
»Sie dankt dir, dass du ihr das Leben gerettet hast.«
Lorenzo schüttelte den Kopf. »Du hast sie gerettet, Lucrezia. Vieles von deiner Seele lebt in der Taube.« Sanft hob er ihr Kinn und küsste sie zärtlich, löste sich aber rasch von ihr und richtete sich auf.
»Mir ist da eben etwas eingefallen.«
»Und was?«, fragte Lucrezia, atemlos wie immer, wenn er sie küsste.
»Ich habe darüber nachgedacht, wie ich dich nennen soll. Meine Mutter heißt auch Lucrezia, und das passt nicht für dich. Die Taube hat es entschieden: Ich werde dich ›Colombina‹ nennen, kleine Taube.«
»Das ist der schönste Name, den es gibt«, flüsterte sie.
Diesmal war sie es, die ihn küsste. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um an seine Lippen zu reichen. In diesem Augenblick im Wald, umgeben vom Versprechen des Frühlings und der Wiedergeburt allen Lebens, sprachen sie zum ersten Mal laut von ihrer Liebe. Es war eine Liebe, die sie ihr ganzes stürmisches Leben lang begleiten sollte – den oft schweren Weg, den Gott ihnen vorgezeichnet hatte.
Es war eine Liebe für die Ewigkeit, vom Anbeginn der Zeit bis zu ihrem Ende.
Über die »Madonna humilitatis«, auch »Madonna del Magnificat« genannt.
Madonna Lucrezia erteilte mir den Auftrag, ein Porträt ihrer Familie zu malen, um die zwanzig Jahre ihrer heiligen Verbindung mit Piero zu würdigen.
Ich habe sie als Madonna gemalt. Welche Madonna? Spielt das eine Rolle? Sind sie am Ende nicht alle ein und dieselbe? Die ewige Muttergottes, Unsere Liebe Frau des Mitgefühls und der Demut. Dennoch: In diesem Bild sollte die Mutterschaft zelebriert werden, und diese kann man nicht mit einer Jungfrau darstellen.Also ist die Muttergottes auf diesem Bild unsere Madonna Lucrezia, dargestellt als Magdalena. Sie schreibt soeben das Magnifikat, den Lobpreis Mariens an Gott, denn Lucrezia ist selbst eine begnadete Dichterin, und auch Magdalenas Schriften werden dichterische Kräfte zugeschrieben. Ich habe das Haar der Madonna in leuchtendem Gold gemalt, damit die Welt vom Glanz jener Frau erfährt, die mein Bild inspiriert hat.
Was für ein Glück es doch ist, die Medici als Freunde und Förderer betrachten zu dürfen!
Einen der Engel im Kreis Unserer Lieben Frau habe ich nach dem Modell Lorenzos gemalt; es ist der Engel, der das Tintenfass hält, denn Lorenzo ist der Dichterfürst. Ich habe die Gelegenheit genutzt, Lorenzos Profil während einer unserer Lehrstunden beim Meister zu skizzieren, als mein Freund gebannt der Legende von Longinus dem Zenturio lauschte. Ich wollte Lorenzo in einem Augenblick der Andacht festhalten, damit die Kraft seiner Gefühle mein Werk beseelt, und im Profil ist Lorenzo am schönsten.
Der Engel Giuliano hilft beim Halten des Buches und schaut seinen älteren Bruder Rat suchend an. Dies wird auf ewig Giulianos Rolle sein: Er wird Lorenzo hilfreich zur Seite stehen, und er wird immer zu ihm aufschauen. Wenn er klug ist, wird er von Lorenzo lernen. Giuliano hat das Antlitz eines Engels, deshalb habe ich ihn in Vorderansicht gemalt. Dass er zu diesem Zweck lange genug stillhielt, erforderte einiges an Hilfe und Bestechung vonseiten Madonna Lucrezias. Giuliano ist noch in einem Alter, in dem Stillsitzen einem Knaben wider die Natur geht.
Die älteste Schwester, Maria, hat ihre Hände zärtlich um die Schultern ihrer Brüder gelegt, wie es ihrer liebenden Natur entspricht. Die beiden anderen Mädchen, Nannina und Bianca, halten als Engel die Krone über das Haupt der Maria. Das erste Enkelkind Pieros und Lucrezias steht für alle goldenen Kinder des blühenden Geschlechts der Medici. Die Hand des Kindes ruht auf dem Wort »Humilitas«. Diese ist unserem Libro Rosso zufolge eine der großen Tugenden, das Gegenteil von Stolz oder Selbstüberschätzung.Zu dem
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