Das Magische Labyrinth
wir tun, kann man vielleicht als theologische Entwöhnung bezeichnen. Du hast doch gesehen, wie viele Götzen es hier noch gibt, nicht wahr? Die meisten davon hatten einmal Unmengen von Anbetern. Wir haben die Gläubigen Schritt für Schritt von ihnen entwöhnt, indem wir sie geduldig und sanft instruierten. Für die meisten ehemaligen Götzenanbeter stellen die steinernen Figuren nun nichts anderes mehr dar als gewöhnliche Kunstgegenstände.
Irgendwann wird auch Chopilotl in ihrer Göttin nichts anderes mehr sehen. Ich hoffe, daß du ihr dabei behilflich sein wirst, die gegenwärtige Verirrung zu überwinden.«
»Du meinst, ich sollte ihr einen theologischen Schubs geben?« sagte Hermann.
Der Bischof sah ihn überrascht an, dann lachte er. »Ich habe mein Staatsexamen an der Universität von Chicago gemacht«, sagte er. »Deswegen klingen meine Worte wohl ein wenig trocken, nicht wahr? Komm, gieß dir einen ein, mein Sohn, und erzähl mir ein bißchen von dir.«
Gegen Ende des Jahres wurde Hermann zusammen mit vielen anderen nackten schlotternden und zähneklappernden Novizen getauft. Nachdem die Zeremonie beendet war, trocknete er eine Frau ab, die das gleiche mit ihm tat. Dann stiegen sie allesamt in Kleider, die den ganzen Körper bedeckten, und der Bischof hängte jedem eine Kette um den Hals, an der der spiralförmige Wirbelknochen eines Hornfisches baumelte. Keiner von ihnen erhielt den Titel eines Priesters; sie wurden ganz einfach Instruisto, Lehrer, genannt.
Hermann kam sich vor wie ein Schwindler. Wer war er überhaupt, daß er sich das Recht anmaßte, andere Menschen zu instruieren und sich aufzuführen, als sei er ein Geistlicher? Er war nicht einmal davon überzeugt, daß sein Glaube an Gott oder die Kirche echt war. Nein, das stimmte nicht. Sein Glaube war echt – jedenfalls meistens.
»Du zweifelst an dir selbst«, sagte der Bischof, »und glaubst, du könntest die Ziele, die du dir gesteckt hast, niemals erreichen. Du hältst dich für unwürdig. Darüber mußt du hinwegkommen, Hermann. Das Potential, würdig zu sein, steckt in jedem Menschen. Wenn du das erkennst, wird es dich zum Heil führen. Du besitzt das Potential ebenso wie ich; alle Gotteskinder sind damit ausgestattet.« Und er lachte.
»Du solltest auf zwei Verhaltensweisen besonders achten, mein Sohn. Manchmal wirst du arrogant sein und glauben, du seist etwas Besseres als die anderen, öfter jedoch wirst du unterwürfig sein. Zu unterwürfig. Ich sollte vielleicht sogar sagen, ekelerregend unterwürfig. Das ist nur ein anderer Ausdruck von Arroganz. Wirkliche Frömmigkeit besteht darin, daß man seinen Platz im Kosmos erkennt.
Auch ich habe noch zu lernen. Ich bete darum, daß ich lange genug lebe, um mich von jeglichem Selbstbetrug befreien zu können. Aber weder du noch ich können unsere ganze Zeit damit verbringen, unser eigenes Ich zu erforschen. Wir sollen unter den Menschen arbeiten. Es wäre Unsinn, wenn wir als Eremiten leben würden. Wohin möchtest du also gehen? Flußaufwärts oder flußabwärts?«
»Am liebsten möchte ich diesen Ort gar nicht verlassen«, sagte Hermann. »Ich bin immer sehr glücklich hier gewesen. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, Teil einer Familie geworden zu sein.«
»Deine Familie lebt zwischen dem Ursprung und der Mündung des Flusses«, sagte Ch’agii, »und besteht natürlich auch aus einigen weniger erfreulichen Verwandten. Aber die gibt es ja schließlich in jeder Familie, nicht wahr? Deine Aufgabe besteht darin, sie auf den richtigen Weg zu führen. Aber das ist erst das zweite Stadium. Zuerst mußt du ihnen klarmachen, daß sie bisher einen falschen Weg gegangen sind.«
»Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Hermann. »Ich weiß nicht einmal, ob ich selbst schon über das erste Stadium hinaus bin.«
»Wenn ich deiner Meinung wäre, hätte ich dich zur Graduation gar nicht erst zugelassen. Wohin also willst du? Flußaufwärts oder flußabwärts?«
»Abwärts«, sagte Hermann.
Ch’agrii runzelte die Stirn. »Gut. Die meisten Novizen wollen in der Regel flußaufwärts gehen, weil sie wissen, daß La Viro dort irgendwo lebt. Und sie dürsten danach, ihn zu besuchen, bei ihm zu sein und mit ihm zu reden.«
»Deswegen habe ich die andere Richtung gewählt«, sagte Hermann. »Dazu bin ich nämlich nicht würdig genug.«
Der Bischof seufzte und sagte: »Manchmal bedauere ich es, daß wir jeglicher Gewalt abgeschworen haben. Offen gestanden möchte ich dir in
Weitere Kostenlose Bücher