Das Magische Messer
die wohltuende Kühle in seiner Hand, versuchte Will sich aufzusetzen und ihn anzusehen. Doch es war nach wie vor zu dunkel. Er tas tete mit der rechten Hand nach vorn und berührte die Brust des Mannes, unter der sein Herz an die Rippen schlug wie ein Vogel an die Stäbe seines Käfigs.
»Ja«, sagte der Mann heiser, »versuche das zu heilen.«
»Sind Sie krank?«
»Mir geht es bald wieder besser. Du hast also das Messer?«
»Ja.«
»Und du weißt, wie man es verwendet?«
»Ja, das weiß ich. Aber bist du aus dieser Welt? Woher weißt du überhaupt von dem Messer?«
Der Mann setzte sich mühsam auf. »Höre mir zu und unterbrich mich nicht. Wenn du der Träger des Messers bist, dann hast du eine unvorstellbar große Aufgabe. Ein Kind … wie konnten sie das zulassen? Gut, es muss eben sein … Es wird ein Krieg kommen, mein Junge, der größte Krieg aller Zeiten. Es gab schon einmal einen ähnlichen Krieg, doch dies mal muss die richtige Seite gewinnen … Tausende von Jahren hat es in der Menschheitsgeschichte nur Lügen, Propaganda, Grausamkeit und Betrug gegeben. Es ist Zeit, noch einmal anzufangen, diesmal aber richtig …«
Er machte eine Pause und holte rasselnd Luft.
»Ja, das Messer«, fuhr er nach einer Weile fort. »Sie wussten nicht, was sie da gemacht hatten, die alten Philosophen. Sie schufen ein Instrument, das die kleinsten Teilchen der Materie spalten konnte, und verwendeten es, um Zuckerwerk zu stehlen. Sie wussten nicht, dass sie die einzige Waffe des gesamten Universums geschaffen hatten, die den Tyrannen besiegen konnte, die höchste Autorität, Gott. Die rebellierenden Engel stürzten, weil sie kein solches Messer hatten, doch jetzt …«
»Ich will es nicht haben!«, rief Will. »Ich will es auch jetzt nicht! Wenn Sie es wollen, bitte sehr! Ich hasse es, und ich hasse, was es anrichtet –«
»Zu spät, du hast keine Wahl. Du bist der Träger, es hat dich ausgewählt. Außerdem wissen die anderen, dass du es hast, und wenn du damit nicht gegen sie kämpfst, nehmen sie es dir weg und kämpfen damit gegen uns alle, für alle Ewigkeit.«
»Aber warum sollte ich gegen sie kämpfen? Ich habe schon zu viel gekämpft, ich kann nicht immer weiterkämpfen, ich will –«
»Hast du dabei gewonnen?«
Will schwieg. Dann sagte er: »Ja, ich glaube.«
»Du hast um das Messer gekämpft?«
»Ja, aber –«
»Dann bist du ein Krieger und nichts anderes. Streite mit allem, was du willst, aber nicht mit deiner eigenen Natur.«
Will wusste, dass der Mann die Wahrheit sagte, aber die Wahrheit war ihm nicht willkommen. Sie war schwer und schmerzlich. Der Mann schien das zu wissen, denn er ließ Will Zeit, bevor er weitersprach.
»Es gibt zwei große Mächte«, sagte er, »die seit Anbeginn der Zeiten miteinander kämpfen. Jeder Fortschritt der Menschen, jedes bisschen Wissen und Weisheit und Anstand, das wir haben, hat die eine Seite der anderen gewaltsam entrissen. Um jede kleine Freiheit, die wir dazubekamen, wurde erbittert gekämpft zwischen denen, die wollen, dass wir mehr wissen und weiser und stärker sind, und denen, die wollen, dass wir demütig und unterwürfig gehorchen. Und jetzt schicken diese beiden Mächte sich an, gegeneinander zu kämpfen. Und beide wollen mehr als alles andere das Messer, das du hast. Du musst dich entscheiden, mein Junge. Wir sind beide hierher geführt worden: du, weil du das Messer hast, ich, weil ich dir sagen kann, was es damit auf sich hat.«
»Nein, das stimmt nicht!«, rief Will. »Ich habe überhaupt nicht nach dem Messer gesucht, sondern nach etwas ganz anderem!«
»Es kommt dir vielleicht nicht so vor, aber gefunden hast du das Messer«, sagte der Mann im Dunkeln.
»Aber was muss ich tun?«
Da zögerte Stanislaus Grumman oder Jopari oder John Parry.
Er war sich schmerzlich des Eides bewusst, den er Lee Scoresby geschworen hatte, und er zögerte ihn zu brechen, doch brechen musste er ihn.
»Gehe zu Lord Asriel«, sagte er, »und sage ihm, dass Stanislaus Grumman dich schickt und du die Waffe hast, die er vor allen anderen braucht. Ob du willst oder nicht, mein Junge, du hast eine Aufgabe. Nichts anderes zählt, als dies zu tun, wie wichtig es auch scheinen mag. Jemand wird dich führen, die Nacht ist voller Engel. Deine Wunde wird heilen. – Warte. Bevor du gehst, lass mich dich näher ansehen.«
Er tastete nach dem Rucksack, den er getragen hatte, nahm etwas heraus, faltete ein mehrfach zusammengelegtes Öltuch auf und zündete dann ein
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