Das Magische Messer
der letzte Brief des Anwalts, eine Straßenkarte von Südengland, Schokoladenriegel, Zahnbürste, einige Socken und Unterhosen zum Wechseln. Und die Mappe aus grünem Leder.
Alles war da. Alles verlief plangemäß.
Nur dass er jemanden umgebracht hatte.
Als Will zum ersten Mal bemerkt hatte, dass seine Mutter anders war als andere Menschen und dass er sich um sie kümmern musste, war er sieben Jahre alt gewesen. Sie hatten im Supermarkt eingekauft und ein Spiel gespielt: Man durfte nur dann einen Artikel in den Einkaufswagen legen, wenn niemand zusah. Will musste sich umsehen und »jetzt« flüstern, und seine Mutter holte dann schnell eine Konserve oder et was anderes aus dem Regal und legte es leise in den Wagen. Was dort lag, war in Sicherheit, weil es unsichtbar wurde.
Es war ein schönes Spiel, und es dauerte lange, weil es Samstagmorgen war und der Supermarkt war voll, aber sie spielten es gut und arbeiteten gut zusammen. Sie vertrauten einander. Will hatte seine Mutter sehr lieb und sagte ihr das oft und sie sagte ihm dasselbe.
Als sie sich der Kasse näherten, war Will aufgeregt und glücklich, weil sie schon fast gewonnen hatten. Und als seine Mutter dann ihre Geldbörse nicht finden konnte, gehörte das zum Spiel, auch als sie sagte, die Feinde müssten sie gestohlen haben. Doch dann wurde Will allmählich müde und hungrig, und auch seine Mutter lachte nicht mehr. Sie hatte auf einmal wirklich Angst. Gemeinsam gingen sie wieder durch die Regale und legten ihre Einkäufe zurück, und jetzt müssten sie besonders vorsichtig sein, weil die Feinde sie mit Hilfe der Kreditkartennummern seiner Mutter aufspüren konnten, die sie wussten, weil sie ja die Geldbörse hatten …
Will bekam immer mehr Angst. Er merkte, wie klug seine Mutter gewesen war, als sie aus dieser wirklichen Gefahr ein Spiel gemacht hatte, um ihn nicht zu beunruhigen, und er wusste, dass er jetzt, da er die Wahrheit kannte, so tun musste, als habe er keine Angst, um sie nicht zu beunruhigen.
Der kleine Junge verhielt sich also so, als sei alles nach wie vor ein Spiel, damit sich seine Mutter keine Sorgen um ihn zu machen brauchte. So kehrten sie nach Hause zurück, ohne ihre Einkäufe, aber in Sicherheit vor den Feinden, und schließlich hatte Will die Geldbörse ja dann auf dem Flurtisch gefunden. Zur Sicherheit waren sie am Montag noch auf die Bank gegangen und hatten das Konto geschlossen und anderswo ein neues eröffnet. Damit war die Gefahr überstanden.
Doch im Lauf der folgenden Monate hatte Will widerstrebend erkennen müssen, dass die Feinde seiner Mutter nicht in der Welt, sondern nur in ihrem Kopf existierten. Das machte sie allerdings nicht weniger wirklich, furchteinflößend und gefährlich, es bedeutete nur, dass er seine Mutter noch sorg fältiger beschützen musste. Und seit dem Moment im Supermarkt, als Will gemerkt hatte, dass er etwas vortäuschen musste, um seiner Mutter keine Sorgen zu machen, war er immer darauf gefasst, dass ihre Ängste erneut aufbrechen würden. Er liebte sie so sehr, dass er sein Leben gegeben hätte, um sie zu beschützen.
Sein Vater war verschwunden, lange bevor Wills Erinnerung einsetzte. Will war schrecklich neugierig, was seinen Vater betraf, und er quälte seine Mutter oft mit Fragen, von denen sie die meisten allerdings nicht beantworten konnte.
»War er reich?«
»Wohin ist er gegangen?«
»Warum ist er weggegangen?«
»Ist er tot?«
»Kommt er eines Tages zurück?«
»Wie war er?«
Helfen konnte sie ihm nur bei der letzten Frage. John Parry war ein schöner Mann gewesen, ein tapferer und kluger Offizier der Marineinfanterie, der aus der Armee ausgeschieden war, um Forschungsreisender zu werden und Expeditionen in entlegene Gegenden der Welt zu führen. Will war fasziniert. Kein Vater konnte aufregender sein als ein Forscher. Von da an hatte er bei all seinen Spielen einen unsichtbaren Gefährten: Er und sein Vater kämpften sich durch den Dschungel, spähten vom Deck ihres Schoners über die stürmische See, versuchten im Schein einer Fackel eine geheimnisvolle Inschrift in einer von Fledermäusen bevölkerten Höhle zu entziffern … Sie waren die dicksten Freunde, retteten einander unzählige Male das Leben und saßen lachend und redend bis tief in die Nacht am Lagerfeuer.
Aber je älter Will wurde, desto mehr Fragen quälten ihn. Warum gab es keine Bilder, die seinen Vater zusammen mit Männern mit vereisten Bärten auf Schlitten in der Arktis oder bei der
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