Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Atemzug gehört, er hatte sich mit ihr zusammen ans Leben geklammert, aber nicht durchgehalten. Er hatte sich erschreckt. Er hatte es nicht vermocht.
Diesmal jedoch war alles anders!
Jedes gerettete Leben, jedes geheilte Leiden hatte ihn unerhörte Kraft gekostet. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, dass er selbst sterben müsste, um einem anderen Erleichterung zu verschaffen. Aber dann wieder hatte er nach jeder Heilung gespürt, sobald die wahnsinnige Spannung nachließ und er sich erholt hatte, dass er ein kleines bisschen stärker geworden war. Er wuchs.
Nach der langen, schweren Reise war er als ein anderer ans Ziel gekommen. Und wenn er noch vor wenigen Wochen seine geliebte Mutter nicht vor dem Tod durch diese grauenvolle, künstlich hervorgerufene Krankheit hatte bewahren können, mit der sie der windige Ed verseucht hatte, so war es durchaus möglich, dass seine Kräfte jetzt ausreichten, um seinem Vater zu helfen.
Selbst wenn so viel Kraft nötig wäre, wie Denis zum Leben benötigte. Er war bereit, seinem Vater alles abzutreten – auch wenn am Ende nichts mehr übrig blieb, auch wenn er selbst das Leben lassen musste …
Diesmal würde er nicht erschrecken. Würde nicht zurückweichen. Er würde es schaffen.
Er musste in dem eisigen Körper einen Funken entfachen.
Denis ließ die Luft aus seinen Lungen langsam entweichen. Er würde jetzt ganz wenig atmen, denn schon sein Atem konnte den feinen Prozess der Reanimation aus dem Gleichgewicht bringen.
Die Luft ringsum begann sich mit Sauerstoff zu füllen und zu schimmern. Stuhl und Sessel fingen an zu wackeln. Wie von einem Windhauch aufgetrieben, segelten die Papiere zu Boden.
Das Kind presste die Handflächen auf Brust und Stirn des sterbenden Mannes.
Ein leises Knistern ertönte, es roch nach Ozon …
Er sieht Polina. Sie geht vor ihm, sieht sich immer wieder nach ihm um. Er kann sie einfach nicht einholen.
Sie befinden sich in ebenjenem hellen, sonnendurchfluteten Nichts, in dem er ihr auch beim letzten Mal begegnet ist. Seine Frau trägt das hübsche Sommerkleid, das sie bei ihrem ersten Treffen angehabt hat.
Er streckt die Hand nach ihr aus, versucht sie einzuholen, aber es gelingt ihm nicht. Lachend wendet sie sich um, sagt jedoch kein Wort.
Ein Leuchten ging durch das Zelt, Funken sprühten. Zugluft fegte durch den Raum, brachte die Möbel zum Schwanken, zerzauste Denis’ Haarschopf. Es war ihm gelungen, seinen Vater auf seinem Weg aufzuhalten. Wenn die Kräfte nur reichten …
Polina beginnt, sich zu entfernen. Sie lacht noch immer, ohne dabei zu sprechen, scheint jetzt langsamer zu gehen und doch seltsamerweise immer weiter fortzurücken.
Er versteht nicht, was vor sich geht, ärgert sich, versucht ihr zuzurufen, aber er bringt kein Wort hervor.
Das ihn umgebende sonnige, helle Nichts verschwindet mit ihr zusammen. Er bleibt in einer grauen Ödnis zurück.
Denis zog seinen Vater langsam zurück. Er spürte, wie seine Kräfte schmolzen, seine Knie zu zittern begannen, und ihm wurde schwarz vor Augen. Die Handflächen des Jungen vibrierten und leuchteten von innen, seine Finger waren gespreizt. Die Luft stöhnte und rauschte.
Draußen vor dem Zelt versammelten sich die Menschen. Zunächst war die Wachpatrouille gekommen, dann die Frühaufsteher unter den Stationsbewohnern. Im Innern des Zelts knisterte und leuchtete es. Ab und zu drang ein ozongesättigter Windstoß nach draußen.
Max stand wie ein Monolith vor dem Eingang des Zeltes und ließ niemanden hinein. Den allzu Neugierigen schob er seine pfundschwere Faust vor die Nase. Sein Gesicht war undurchdringlich. Wosnizyn, der zu Beginn des Schauspiels
versucht hatte, ins Innere seiner Wohnstätte zu gelangen, saß nun entkräftet neben einer Säule und beobachtete unzufrieden die kleine Menschenansammlung.
»Ich bin der Kommandeur der Patrouille!«, erklärte ein junger Mann in Uniform. »Ich muss wissen, was da drin vor sich geht! Und ich werde hineingehen, ob es Ihnen passt oder nicht!«
Er war genauso groß wie Max, trotzdem musterte dieser den jungen Wachmann mitleidig von oben nach unten.
»Versuch es nur, mein Bester.«
Denis hatte es fast geschafft. Sein Vater war beinahe zurück. Aber die Kraft des Jungen reichte nur noch für drei Atemzüge. Er hatte seinen Papa aus der Dunkelheit zurückgeholt, aber die Dunkelheit forderte einen Ersatz …
Polina sagt auf einmal etwas … Es klingt wie »noch nicht an der Zeit …« Sie lächelt,
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