Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
würden sich gegenseitig helfen, der Sohn ohne Mutter und die Mutter ohne Sohn.
Auf einmal begriff Sergej alles. Sie war es gewesen: die seltsame, kleine Silhouette, die er nicht weit von Tichons Haus gesehen hatte. Sie war ihnen gefolgt …
»Papa!« Denis weinte. »Sie hat mich gerettet. Damals, vor den Menschenfressern … Sie ist uns gefolgt. Hat mich beschützt … Sie war eifersüchtig …«
War er überrascht?
Nein. Sergej betrachtete die schwächer werdende, sterbende Frau und erinnerte sich an ihren Ingrimm, ihre Geschicklichkeit, ihren Blick. Ja, sie war dazu fähig.
Was für eine schreckliche, abartige Welt, dachte er innerlich erschauernd. Frauen verlieren ihre Familien und verlieren darüber den Verstand, verwandeln sich in Mörderinnen, sind zu allem bereit, um nur das Gefühl der Gegenwart ihrer Nächsten wiederzuerlangen, und begreifen nicht, wie gespenstisch, wie illusorisch es ist.
Sie hatte den Neandertaler getötet. Seltsamerweise mit einem Pfeil …
Mit einem Pfeil.
»Sie war es, Max! Mit den Pfeilen, das war sie! Sie hat auch Litjagin getötet! Und Wosnizyn!«
Sergej blickte Max fassungslos an.
Blut strömte aus der Wunde an Dinas Bein. Es war kein Streifschuss geworden. Der weinende Denis bettete den Kopf der Frau auf seine Knie. Zum Teufel, hatte Max etwa eine Arterie erwischt? Blut lief auf die Hände des Jungen. Die Frau atmete hektisch, während sie reglos dalag und Denis innig betrachtete – als könne sie sich nicht sattsehen an ihm.
»Mach dir keine Sorgen, Russik …«, murmelte sie. »Mama geht es bald wieder besser …«
»Es tut mir leid«, sagte Denis schluchzend. »Verzeih mir … Bitte, stirb nicht!«
Im selben Moment verspürte Sergej einen heftigen Stich im Herzen.
Denis, sein Junge, sprach nicht mit Dina … Er sprach in Wirklichkeit mit Polina! Alles, was er nicht mehr hatte sagen können, was er der sterbenden Polina nicht hatte geben können, gab er jetzt dieser Frau.
Vielleicht … vielleicht hatte er damals versucht, Polina zu retten, so wie er andere Kranke gerettet hatte? Max, einen Fremden, hatte er geheilt, aber seine Mama zu heilen war ihm nicht geglückt, seine Kräfte hatten nicht ausgereicht … Und jetzt versuchte er es – so gut es ging – wiedergutzumachen.
Oh, Gott …
»Du bist so lieb … Und so tapfer … Ich wusste, dass du uns folgst.« Denis schluchzte noch immer heftig.
Max trat mit großen Schritten auf die stark blutende Frau zu und schrie sie an: »Wo ist der Arzt?! Wo hältst du ihn gefangen? Antworte? Hast du ihn getötet?«
»Nein …«, murmelte Dina keuchend. »Er tat mir leid … Ich bin weich geworden … Ich hätte ihn töten müssen …
Damit er diesen da«, sie warf Sergej einen schweren Blick zu, »nicht mit seinen Medikamenten heilt. Ruslan gehört mir … Nur mir – habt ihr das verstanden?«
»Wo ist er?!« Über sie gebeugt, brüllte Max die Frau mit schrecklicher Stimme an.
Dina hob schwach den Kopf von Denis’ Knie und machte eine Bewegung in Richtung Tunnel. Max sprang auf und lief die Gleise entlang.
Sergej rutschte die Wand hinab auf den Schotter. Ihm war schwarz vor Augen.
»Hier ist es!«, hörte er Max schreien. »Hier ist eine Kammer! Edik, lebst du noch?«
»Er ist nicht dein Sohn«, sagte Sergej in den Raum hinein. »Dein Sohn ist gestorben. Du hast keine Verwandten mehr. Er ist nicht Ruslan, sondern Denis. Und seine Mutter heißt Polina. Und sie … sie war meine Frau …«
Sein Körper fiel auf die Seite.
Das letzte Sandkorn war in den unteren Kolben gefallen.
Seine Zeit war abgelaufen.
Von irgendwo aus diesem Nicht-Sein, dieser Finsternis, die schwärzer und undurchdringlicher war als die Nacht an einer Metrostation, vernahm er Stimmen, die allmählich lauter wurden, als würde jemand den Lautstärkeregler an einem Radiogerät aufdrehen. Er wollte nur wissen, ob das Stimmen von Engeln waren – was bedeuten würde, dass er schon im Himmel war –, oder ob da sterbliche Menschen sprachen, was hieße, dass er diese hektische Welt einfach nicht
verlassen konnte, sich nicht losreißen konnte, wie ein mit Wasserstoff gefüllter Ballon an einem widerspenstigen Band.
Wenn es riss …
Es war kalt. In dieser Kälte glomm noch ein winziges Fünkchen, das immer schwächer wurde.
»Nur wenige Minuten, Max … Verabschieden. Sein Organismus hat ohnehin schon mehr durchgestanden, als …«
»Warte, Edik, aber …«
»Da gibt’s nicht viel zu erklären: Die Medikamente sind nicht so lange
Weitere Kostenlose Bücher