Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
haltbar. Begreif doch, seither sind zwanzig Jahre vergangen! Und es ist mir einfach nicht gelungen, die Technologie zur Herstellung dieser Präparate zu rekonstruieren, auch nicht in dem Labor, das man mir an der Marxistskaja zur Verfügung gestellt hat.«
»Aber warum hast du ihnen die Medikamente nicht früher geschickt? Polina und er haben darauf gewartet, haben alle ihre Hoffnung in dich gesetzt …«
»Jetzt mal ganz ohne Gefühlsduselei, Wikinger. Am Anfang hatte ich keine Möglichkeit, das Medikament zu verschicken. Dann stellte sich heraus, dass das Präparat einige unerhörte therapeutische Nebenwirkungen hat. Ich begann es zu verkaufen, und schon bald stieg ich, wie man so sagt, in der Metro auf. Schließlich hat hier alles seinen Preis; wer wüsste das besser als du? Die letzte Packung, die ich für sie aufbewahrte, auch wenn ich sie nicht verschickte … ist ganz einfach verdorben.«
»Die Gier hat dich getrieben, Ed. Du wolltest alles verkaufen. Nur ein letzter Funken Gewissen hat dich daran gehindert. Und die Menschen – ach was, zum Teufel mit ihnen. Ja, sie haben für dich gearbeitet, aber bei Bedarf
werden sich andere finden. Diese zwei jedenfalls hast du abgeschrieben.«
»Tu doch nicht so, als wärst du ein Heiliger. Du bist ein Killer, Wikinger. Willst du mir allen Ernstes eine Moralpredigt halten?«
Das Gespräch drang nur mühsam zu Sergej durch. Er begriff immerhin, dass Wosnizyn lebte, Max ihn aus dem Tunnel gerettet hatte, dass es aber keine Medikamente mehr gab und er, Sergej, jetzt starb. Er hatte nur noch wenige Minuten. Dann würde das Band reißen.
Mit letzter Kraft öffnete er die Augen – als ob seine Augenlider aus Blei wären –, aber er konnte nichts sehen, nur verwischte bunte Flecken.
»Denis«, sagte Max, »komm her zu deinem Vater …«
»Onkel Max, geht es ihm schlecht?« Sergej vernahm die Stimme seines Sohnes. »Warum schweigt ihr?«
Mit einem Mal sah Sergej einen Engel. Undeutlich, aber er wusste augenblicklich, dass es ein Engel war. Nun denn, er hatte nicht umsonst gelebt, hatte doch etwas geschafft. Sein Sohn war in Sicherheit, in der Metro, bei Leuten, die sich um ihn kümmern würden. Er würde heranwachsen. Schade, dass es so gekommen war. Aber Sergej hatte getan, was er konnte – er hatte Polina nicht enttäuscht.
Der glühende Funke in seinem Innern schrumpfte zu einem winzigen Punkt zusammen.
Er hätte seinem Sohn noch so viel sagen wollen, aber er konnte nicht mehr sprechen.
»Papa?«, sagte Denis vorsichtig, und seine Stimme ertönte direkt neben Sergej. »Papa! Nicht sterben, bitte! Du darfst nicht sterben!«
»Ich muss … Ich will zur Leninka. Zu Polina …«, flüsterte Sergej.
Die Stimmen begannen sich zu entfernen, und die Welt um ihn herum wurde finster.
Dunkelheit hüllte ihn ein.
5
»Es ist alles vorbei, mein Junge«, sagte Eduard Georgijewitsch Wosnizyn, legte Denis die Hand auf die Schulter und blickte ihm in die Augen. »Dein Vater ist von uns gegangen. Aber du, du bist am Leben, und wir sind an deiner Seite, und du hast deine Fähigkeiten, über die ich schon einiges gehört habe …«
»Gehen Sie raus«, sagte Denis mit zitternder Stimme, und entwand sich dem Griff des Mannes. »Onkel Max und Sie auch, Ed … Verlassen Sie das Zelt.«
Max sah Denis an … und begriff alles.
»Komm schon, Edik, na los, schnell.« Eilig versuchte er Wosnizyn zum Ausgang zu schieben.
Der sträubte sich, begriff nicht, was vor sich ging und warum er sein Zelt verlassen sollte. Wosnizyn war von seiner mehrtägigen Gefangenschaft ziemlich geschwächt.
»Was soll das hier?«
»Begreifst du nicht, dass der Junge sich von seinem Vater verabschieden muss? Jetzt benimm dich doch nicht wie ein kleiner Junge, Edik, Herrgott nochmal …«
»Schnell, Onkel Max«, sagte Denis flehentlich.
»Warum hat er es so eilig?« Eduard Georgijewitsch war verärgert.
»Der Junge ist am Boden zerstört … Knips doch mal dein Hirn an, Edik.«
Als Denis endlich mit seinem Vater in Wosnizyns geräumigem Zelt allein war, streckte er beide Hände über Sergejs Körper aus, schloss seine Augen und tat mehrere tiefe Atemzüge, um sich einzustimmen. Er sah , was im Organismus seines Vaters vor sich ging, und begriff, wie schwer die bevorstehende Aufgabe war, wie ungeheuer viel Kraft sie erfordern würde …
Als Mama starb, hatte er ihr nicht helfen können. Er hatte gewusst, dass er dazu nicht in der Lage sein würde. Er hatte ihren Schmerz gespürt, ihren letzten
Weitere Kostenlose Bücher