Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Sergej hinüber. »Wie geht es dir? Ich meine, sollen wir zu zweit gehen oder benötigen wir Männer zur Verstärkung?«
Jemand hat meinen Sohn, dachte Sergej. Wenn es nötig ist, bring ich ihn, ohne zu zögern, um. Dafür brauche ich keine Zeugen.
»Zu zweit«, sagte er.
»Ausgezeichnet.« Max nickte und wandte sich an den Wachmann: »Geben Sie uns zwei starke Taschenlampen; in einer Stunde sind wir zurück. Und mir eine Pistole. Für alle Fälle.«
Sie liefen die Gleise entlang durch den Tunnel, beleuchteten den Weg mit den Lampen und hielten die Pistolen schussbereit. Sergejs Kräfte schwanden mit jedem Schritt. Hauptsache, ich schaffe es noch, meinen Sohn zu retten, dachte er.
Vor ihnen wurden zwei Gestalten sichtbar, die sich ohne Hast vorwärtsbewegten: die eine ziemlich klein, die zweite ein wenig größer.
»Da sind sie!«, schrie Sergej und lief schneller. »Halt!«
Er schoss in die Luft.
Das Krachen des Schusses hallte von den Tunnelwänden wider.
Die Flüchtenden blieben stehen und drehten sich um. Die kleinere Gestalt gehörte Denis, und die andere, größere …
»Das kann nicht sein«, sagte Sergej, und verlangsamte unwillkürlich seine Schritte. Er blinzelte mehrfach. »Das kann nicht sein. Dich gibt es nicht mehr! Du bist tot!«
Die Gestalt, die ihn anblickte, trug Männerkleidung: Hosen, Hemd, eine seltsame Jacke und geflickte Schuhe, doch es war eine kleine, schwarzhaarige Frau: Dinara, Dina.
»Zum Teufel«, sagte Max, der ihn eingeholt hatte und jetzt ebenfalls stehen blieb. »Alles, was recht ist, nur nicht das … Vor Toten habe ich mich schon als Kind gefürchtet. «
Dina zog mit der linken Hand den Jungen zu sich, die rechte streckte sie ihnen entgegen, krallte die Finger wie eine Katze zusammen und zischte leise auf.
»Entschuldige, Papa«, sagte Denis jämmerlich. »Sie hat versprochen, mich zu Mama zu bringen.«
»Ich bin seine Mutter!« Die Frau schrie es laut und mit klarer Stimme heraus. »Er ist mein Sohn Ruslan! Ihr habt ihn mir geklaut!!«
»Sie war ganz sicher tot«, flüsterte Max Sergej zu.
»Manchmal wollen jene, die wir für tot halten, einfach nicht sterben …«
»Lass den Jungen los! Lass ihn los, und verschwinde!«, schrie Max Dina an, ohne den Pistolenlauf sinken zu lassen.
Gleich wird sie den Jungen vor sich ziehen wie einen Schild, um sich zu schützen, dachte Sergej voller Entsetzen.
Aber Dina dachte gar nicht daran. Welche Mutter würde ihren eigenen Sohn als Schutzschild benützen? Stattdessen schob sie Denis zur Seite, streckte ihnen jetzt beide Hände mit gekrallten Fingern entgegen und zischte wieder auf. Dann fing sie an zu knurren; sie verteidigte ihre Nachkommenschaft,
ihren einzigen Sohn, der gestorben und um ihretwillen von den Toten wieder auferstanden war.
»Onkel Max, schieß nicht, bitte!«, schrie Denis, und in seiner Stimme waren Tränen zu hören.
»Licht!«, zischte Max Sergej zu.
Dina wandte sich zu Denis und strich ihm mit dem Handrücken über die Backe. Ihr tierischer Zorn schien plötzlich in der Dunkelheit zu versickern. In ihrer Stimme lag jetzt nur noch Zärtlichkeit, unendliche Wärme und Sorge um den Sohn. Nur noch Zärtlichkeit. Und Sehnsucht …
»Hab keine Angst, Russik, mein Sohn, ich werde nicht zulassen, dass man dir etwas zuleide tut …«
In diesem Moment löste sich der Schuss aus Max’ Pistole.
Er wollte sie nicht töten. Max zielte auf das linke Bein und peilte einen Streifschuss an, um die Frau nicht lebensgefährlich zu verletzen.
Die Wucht der Kugel warf Dinas leichten Körper nach hinten gegen die linke Wand des Tunnels. Denis schrie auf, begann zu weinen, stürzte zu ihr und hockte sich neben ihr auf die Knie.
Max und Sergej waren augenblicklich an ihrer Seite. Der Junge heulte, wandte sein tränenüberströmtes, hassverzerrtes Gesicht Max zu und schrie: »Du hast sie getötet! Warum hast du sie getötet? Was hat sie dir getan?«
Als Sergej seinen Sohn ansah, schossen ihm selbst die Tränen in die Augen.
Denis hatte gerade erst seine Mutter verloren. Äußerlich schien er dieses Unglück tapfer zu tragen. Aber in Dina
hatte er einen Menschen getroffen, dem ein vergleichbarer Verlust das Rückgrat gebrochen und die Seele zerstört hatte. Sie war nur noch ein halber Mensch. Wie auch Denis eine Hälfte verloren hatte. Und wer wusste es schon, vielleicht wäre ihre Wunde mit viel Liebe geheilt. Wenn er ihr gestattet hätte, seine Mutter zu sein. Nichts anderes hätte sie sich gewünscht! Sie
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