Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
ihr Idol, den wissenschaftlichen Leiter des Experiments, glaubten.
Sie ließen sich bestrahlen und fällten so ihr eigenes Todesurteil.
An seine Krankheit dachte er jetzt kaum noch. Besser gesagt, er dachte natürlich ab und zu daran, aber viel seltener als an Polinas. Vor einem Monat hatte der Chirurg gesagt: »Ich kenne dich jetzt schon so lange, Sergej, und ich habe nicht vor, dir irgendwelche Märchen aufzutischen … Um Polina steht es schlecht. Schlechter als um dich. Du hast vielleicht noch sechs, vielleicht sieben Monate vor dir. Sie nicht.«
In der Nacht stöhnte Polina wieder und warf sich im Schlaf hin und her. Sergej wollte sie erst wecken, brachte es
aber nicht über sich, sondern wischte ihr nur liebevoll den Schweiß von der Stirn und deckte sie zu.
Als Denis sich am nächsten Morgen für die Schule fertig machte, fragte er: »Sag mal, Mama, was sind eigentlich Lipezker Waisen? Ref. 10 «
Sergej und Polina tauschten Blicke aus.
»Wo hast du das denn aufgeschnappt, mein Sohn?«, fragte Polina.
»Die Lehrerin hat gestern gesagt: ›Wer braucht uns schon, uns Lipezker Waisenkinder …‹«
»Ach, das ist nur so eine Redewendung …«
»Lipezk ist doch eine Stadt, oder?« Denis blieb hartnäckig. »Und wenn es dort irgendwelche Waisenkinder gibt, dann heißt das, dass dort Menschen leben, und zwar nicht unter der Erde wie wir, sondern oben!«
»Du kommst zu spät zur Schule«, bemerkte Sergej trocken.
Polina wusste schon, worin ihr heutiges Tagwerk bestand. Sie würde in ihrer winzigen Wohnung aufräumen und dann Max in der Krankenabteilung besuchen. Dem Patienten ging es täglich besser, und er redete schon davon, sich einer Karawane anzuschließen, sobald er sich wieder auf den Beinen halten konnte. Er wollte um nichts in der Welt in der Kolonie bleiben.
Tagsüber wurde das ohnehin trübe Licht in den Wohnbereichen ganz abgeschaltet. Schließlich waren die Kinder in der Schule, die arbeitsfähigen Einwohner an ihren Arbeitsplätzen, und für die Alten und Kranken – alle, die nicht aufstehen konnten – musste eine Kerze genügen.
Gerade war bei ihnen im Zimmer das Licht ausgegangen.
»Macht nichts«, sagte Polina zu Sergej. »Ich komme mit dem Petroleumlämpchen aus. Ich bin doch sparsam. Geh ruhig.«
Sergejs Tag versprach anstrengend zu werden. In einer Stunde würde er vor dem Rat sprechen müssen, über die soziale Situation in der Gemeinschaft, über die Bedürfnisse ihrer Einwohner und darüber, welche Waren man besonders dringend bei den Karawanen erwerben sollte. Sein Bericht war im Großen und Ganzen fertig, er musste nur noch ein paar letzte Änderungen vornehmen. Sergej hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass sein Vortrag bei einigen Mitgliedern des Rats heftigen Widerspruch auslösen würde – schon jetzt sah er ihre geröteten, wütenden Gesichter vor sich. Schließlich waren sie der Ansicht, dass es unter diesen Lebensumständen völlig überflüssig war, über irgendeine soziale Situation zu sprechen! Aber er war bereit zu kämpfen.
Für drei Uhr nachmittags wurde eine Karawane erwartet. Sergej hatte vor, an den Verhandlungen teilzunehmen.
Und am Abend … Daran wollte er eigentlich lieber nicht denken.
Die letzte Aufgabe seines Tages würde darin bestehen, die einzelnen Unterkünfte zu besuchen und mit den Kolonisten zu sprechen. Das Ziel dieser Unternehmung war eine Art Volkszählung, die erste in zwanzig Jahren und die erste seit der Gründung der Gemeinde. Darüber hinaus hatte sich die Volkszählungskommission, der er vorstand, verpflichtet, die Lebensumstände der Menschen zu überprüfen: Für wie viele Familien musste eine größere Unterkunft gesucht werden? Bei wem konnte man noch jemanden
unterbringen? Es würde keine angenehme Arbeit werden, schlimmer, als sich mit dem Rat zu streiten.
Über die Ergebnisse der Volkszählung und der Unterredungen mit den Einwohnern würde er ebenfalls einen Bericht schreiben müssen. Aber das war erst der zweite Schritt.
Sergej machte sich auf den Weg in sein winziges Arbeitszimmer, das sich an den Großen Saal anschloss, um dort seinen Vortrag zu Ende zu bringen.
Max saß auf dem Bett und betrachtete seine Hände.
»Guten Tag«, sagte Polina. »Wie ich sehe, geht es Ihnen jeden Tag besser …«
»Der Arzt hat heute Morgen dasselbe gesagt. Er war so überzeugend, dass ich sogar versucht habe, ein paar Liegestütze zu machen …«
»Ich glaube, Sie sollten nichts überstürzen«, entgegnete Polina und ließ
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