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Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Kusnezow
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ihres Sohnes, aber genaugenommen war das nicht seine außergewöhnlichste Fähigkeit.
    »Ich glaube, ja, aber sie gehen nicht weit … Nur irgendeine Kleinigkeit, die erledigt werden muss.«
    Denis nickte, und Polina hatte den starken Eindruck, dass ihr Sohn weit mehr wusste, als er zugab.
    »Mama«, bat Denis. »Erzählst du mir, wie du Papa kennengelernt hast?«
    »Aber die Geschichte kennst du doch.« Polina lächelte angestrengt.
    »Ich hör sie so gerne …«
    Polina nickte und begann in einem Tonfall zu sprechen, als wollte sie eine alte Sage erzählen. Es war auch ihre Lieblingsgeschichte, denn sie beinhaltete ihre wichtigsten und leuchtendsten Erinnerungen aus der Welt von gestern, aus ihrem untergegangenen Leben, ihrer jäh unterbrochenen Jugend. Es war ein Maitag gewesen, als sie Sergej kennenlernte. Ein warmer Wind wehte die Warwarka-Straße Ref. 7 entlang, und an der Vorderfront der Lenin-Bibliothek Ref. 8 herrschte angenehmer kühler Schatten. Sie fühlte das leichte Gewicht der staubigen Bücher in ihren Händen, sah die Schlange schwatzender Studenten vor sich … Den sympathischen jungen Mann … Sie spürte augenblicklich: Er ist es, der eine, für immer.
    Schlagartig nickte sie ein. Der Schmerz hatte allmählich nachgelassen, und Polina schlief etwa eine Stunde traumlos.
Als sie aufwachte – ebenso abrupt, wie sie eingeschlafen war –, fühlte sie sich erholt, als ob sie mehrere Stunden lang geschlafen hätte. Sie hätte nicht mehr zu sagen vermocht, an welcher Stelle sie ihre Erzählung unterbrochen hatte und in diesen leichten, zauberhaften Schlaf hinübergeglitten war.
    Sie spürte keine Schmerzen mehr.
    Polina sah sich im Zimmer um. Am Tisch saß Denis und schrieb bei Kerzenlicht etwas in sein Heft, wobei er ärgerlich die Zunge zwischen den Lippen hervorschob. Er erledigte seine Hausaufgaben. Alles wiederholt sich, dachte Polina. Sie konnte sich sehr gut daran erinnern, wie sie selbst in Denis’ Alter gewesen war. Sie wollte ihren Sohn schon auffordern, sorgfältiger und aufmerksamer zu arbeiten, als dieser sich plötzlich zu ihr wandte und sie anlächelte. Sogleich verging ihr jede Lust, ihn zu ermahnen.
    Nachdem sie ein wenig von dem Teesurrogat getrunken hatte, machte sie sich auf in Richtung Krankenabteilung.
    Im Zimmer des Verletzten war alles ruhig. Der Mann lag noch immer auf dem Rücken, ein Laken bedeckte seinen Körper. Polina wusste nicht, ob er schlief oder bewusstlos war. Eilig ging sie ins Nachbarzimmer, um das Bettzeug des verstorbenen Iwan Trofimowitsch zusammenzuräumen und es in die Wäscherei zu bringen. Dann begann sie den Boden zu fegen. Erst bei dem Verstorbenen, dann bei dem anderen Patienten …
    Auf einmal legte sich ihr eine eiserne Pranke auf die Schulter. Polina erschrak und richtete sich auf. Der Verletzte blickte sie von oben nach unten ruhig an. Seine Augen waren dunkel.
    »Wo ist er?«
    »Wer?«
    »Der Alte aus dem Nachbarzimmer.«
    »Er ist gestorben«, entgegnete sie. »Vergangene Nacht.«
    »Und wo ist er jetzt?«
    »Oben«, erklärte Polina vorsichtig und trat einen Schritt zurück.
    »Schade, sie werden ihn verschlingen …«
    Er verstummte und blickte an ihr vorbei.
    »Heißen Sie Max?«
    Er nickte.
    »Maxim?«
    »Max«, sagte er hart. »Und Tee haben Sie mir beim letzten Mal auch keinen gebracht.«
    »Wie fühlen Sie sich?«
    Er blickte sie wieder an. »Ich lebe noch. Ist das gut? Ja …«
     
    Wladimir Danilowitsch rannte mit dem Gewehr im Anschlag aus der Kirche. Mischa stand dicht an der Außenmauer, am ganzen Körper zitternd, und zielte mit dem Lauf seines Gewehrs in den niedrigen, finsteren Himmel. Es schneite in dichten großen Flocken, und hinter diesem Schleier aus Schnee war nichts zu erkennen.
    »Was ist passiert?«, schrie Wladimir Danilowitsch. »Hast du ein Gespenst gesehen?«
    Der Junge gab ein paar undeutliche, zusammenhanglose Worte von sich und zeigte in die Luft.
    »Lass ihn nicht allein hier«, sagte Sergej, der ebenfalls nach draußen gekommen war. »Ich glaube nicht, dass er es sich nur eingebildet hat.«
    Wladimir Danilowitsch zuckte verärgert mit den Schultern und gab Mischa ein Zeichen, ihm zu folgen.
    Sie kehrten in die Kirche zurück und machten sich an die Arbeit. Die zwei Leichname wurden in den eiskalten Keller verfrachtet. Vater Serafim sprach noch ein letztes Gebet für sie.
    Nach oben zurückgekehrt, trat Sergej an die dunkel und rissig gewordene Ikone des Sergius von Radonesch Ref. 9 . Die Augen des Heiligen blickten

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