Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
streng und gleichzeitig barmherzig; sein Gesicht war wohlgeformt und rein. Die rechte Hand mit den gekreuzten Fingern hielt er etwa auf Brusthöhe, mit der linken, die unter dem Umhang herausschaute, umfasste er eine Papierrolle.
Sergej kannte keine Gebete und hatte keine Ahnung von kirchlicher Symbolik. Auch in seinen Gesprächen mit Vater Serafim, der zwölf Jahre jünger war als er, waren sie praktisch nie auf religiöse Themen zu sprechen gekommen.
Sergej zog vorsichtig eine dünne, kurze Kerze aus seinem Schutzanzug hervor, die sein Sohn vor kurzem angefertigt hatte: Sie bestand aus einem dreifach zusammengelegten schwarzen Faden als Docht, an den der Junge nicht sonderlich geschickt Wachsreste von ihrer großen Kerze zu Hause gepresst hatte. In seiner Hosentasche fand Sergej eine Streichholzschachtel, wie sie in der Kolonie hergestellt wurden. Er ließ ein paar Tropfen Wachs in die Halterung eines großen, rostigen, schon leicht schiefen Kerzenleuchters tropfen, stellte die Kerze hinein und hielt sie noch ein paar Sekunden, bis das Wachs fest war und sie sicher stand. Die zarte Flamme brannte gleichmäßig, ohne Zittern und Flackern.
Sergej stand einige Minuten da, bekreuzigte sich etwas ungeschickt, verbeugte sich, bat um Vergebung und um Gesundheit für seine Frau und seinen Sohn. Zuletzt warf er noch einen Blick auf den vom Leichentuch bedeckten Iwan Trofimowitsch.
»Wird sie keinen Brand entfachen?«, fragte Marat und zeigte auf die Kerze.
»Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Vater Serafim mit Überzeugung. Schnell schob er sich die Kapuze seines Schutzanzugs über den Helm und zog sie fest.
Es war Zeit zurückzukehren.
»Die Waffen bereithalten«, befahlt Wladimir Danilowitsch am Ausgang. »Marat, du gehst mit Vater Serafim. Wir bleiben dicht beisammen. Keiner fällt zurück und gafft rum. Es wird bald dunkel. Also los, Leute, Abmarsch.«
Sergej sah sich auf der Schwelle nochmal nach Sergius von Radonesch um. Er wusste selbst nicht, weshalb, aber er wäre gerne noch einen Augenblick in der Kirche geblieben. Na ja, macht nichts, dachte er. Schon bald werden sie mich hierhertragen. Weniger als ein Jahr. Vielleicht erlebe ich noch den Sommer. Erst legen sie mich auf die Bank, dann in den Keller.
»Papa kommt«, sagte Denis, ohne von seinem Schulheft aufzublicken.
»Was sagst du?«
Polina sah hoch, während sie das Hemd ihres Sohnes stopfte. Max, der Verletzte in der Krankenstation, war eingeschlafen, und ihre Schmerzen hatten wieder angefangen. Also war sie nach Hause zu ihrem Sohn zurückgekehrt.
»Woher weißt du das?«
»Mach dir keine Sorgen, Mama. Es ist alles in Ordnung. Es bestand Gefahr, aber sie ist an ihm vorbeigezogen.«
Diese seltsame Angewohnheit – wie auch verschiedene andere – hatte sie an ihrem Sohn schon lange beobachtet: Er antwortete nicht auf die eigentliche, konkret geäußerte Frage – besonders wenn er das nicht wollte, weil er sie überflüssig fand, oder wenn er fürchtete, die Erwachsenen würden ihn nicht verstehen –, sondern beantwortete gleich die nächste, die noch nicht gestellt worden war. Polina wusste, woher diese Besonderheit ihres Sohnes rührte, diese und alle anderen. Sie fürchtete sie nicht direkt, empfand aber doch eine gewisse Besorgnis darüber. Dabei hatte sie schon genügend Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, und doch fiel es ihr nicht leicht.
»Wollen wir ihm entgegengehen?«, fragte Denis.
Wenn ich nur die Kraft dazu hätte, dachte sie.
Die Männer, die von den Streifzügen an der Oberfläche zurückkehrten, wurden immer in Empfang genommen. Die Leute sammelten sich im Flur gegenüber der Tür zur Umkleide, wo sich auch die Reinigungsanlage für die Strahlenschutzanzüge befand. Meistens kamen Verwandte und Kinder, die gerade keinen Unterricht hatten, seltener Angehörige des Militärs und noch seltener Ratsmitglieder. Jetzt fanden sich Denis und Polina an dieser Stelle ein.
Als Erstes öffnete Vater Serafim die Tür zur Umkleide. Er trug normale Kleidung und sah sehr blass aus. Seine siebenjährige Tochter Lisa, ein zierliches Wesen mit ernstem Gesichtchen, lief augenblicklich auf ihn zu. Lisa und Denis waren befreundet, aber Polina war schon länger aufgefallen,
dass die Kinder nur selten fröhlich miteinander spielten, sondern meistens schweigend nebeneinander saßen und lasen.
Lisa umarmte ihren Vater und drückte sich an ihn, während dieser ihr über den Kopf strich. Lisas Mutter war vor einem Jahr gestorben. Zunächst hatten
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