Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Monolog. Dabei versuchte er nicht, seinen Bericht zu verteidigen, sondern sprach über die Menschen, die in diesen schrecklichen Zeiten überlebt hatten und in diesem riesigen Keller gefangen waren, der vor zwanzig Jahren überhaupt nicht für ein Leben und Arbeiten vorgesehen gewesen war. Viele dieser Menschen hatten nicht nur noch nie die Sonne gesehen – was übrigens auch für die wenigen Auserwählten galt, die gelegentlich an die Oberfläche kamen –, sondern auch der Anblick des Himmels in seinem jetzigen wenig schönen Erscheinungsbild war ihnen verwehrt. Aber immerhin gab es doch einen Filmprojektor, den ein Flüchtling vor fünf Jahren mitgebracht hatte. Er musste nur repariert werden! Auch eine recht große Filmothek existierte bereits, die man durchaus noch vervollständigen konnte. Die Leute würden ins Kino
gehen! Ein Lesesaal, Bücher gab es ja genug … Themenabende … Ein Chor! Das alles war machbar, wenn man bloß aufhören würde, die Kolonisten als Arbeitstiere zu betrachten. Sie sprachen selbst schon von sich, als wären sie Ratten, die auf ewig in der Erde begraben waren. Sie brauchten frische Luft! Selbst wenn es künstliche Luft war. Irgendwo musste man schließlich anfangen. Nicht weit von hier befand sich eine Bibliothek, man musste die Bücher nur herunterbringen! Natürlich wäre es am schönsten, die Lenin-Bibliothek wieder aufzubauen. Aber jedem war klar, dass das unmöglich war. Und darum ging es ihm auch gar nicht. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein!
Sergej sprach in kurzen, unmissverständlichen Sätzen. Die Gesichter der Ratsmitglieder verdüsterten sich. Viele begriffen, dass er Recht hatte. Gleichzeitig verspürten sie nicht die geringste Lust, den Menschen irgendetwas über ihre Arbeit und ihre Mahlzeiten in der gemeinsamen Kantine hinaus zuzugestehen, umso mehr, als diese nicht selbst darum baten. Damit würde man doch nur das seit langem stabile Ordnungsgefüge stören. Wozu? Womöglich kamen die Leute dann plötzlich auf die Idee, noch mehr an der hiesigen Lebensordnung verändern zu wollen. Am Anfang würden sie vielleicht miteinander singen, aber was, wenn sich aus dem Chor plötzlich eine Untergrundorganisation entwickelte?
»Sie entscheiden«, sagte Sergej. »Aber ich stelle – mit einiger Verwunderung – fest, dass unser Rat halsstarrig und schwer von Begriff ist. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich Sie alle zum Teufel jagen und Neuwahlen verkünden. «
»Das hast du gesagt?« Sie blickte ihn gleichzeitig erschrocken, begeistert und ungläubig an.
Er drückte die Brust heraus und wollte gerade nachlegen, als Polina sich plötzlich mit verzerrtem Gesicht vorbeugte, ihren Bauch mit den Armen umschlang und den Atem anhielt. Sergej war augenblicklich an ihrer Seite und setzte sie aufs Bett.
Sie wollte vor Schmerz schreien. Nur mit größter Mühe hielt sie sich zurück, denn sie begriff, wie sehr sie ihren Mann und erst recht ihren Sohn damit erschrecken würde. Nachdem Denis mit seinen Hausaufgaben fertig war, hatte er sich mit einem Buch hingelegt und war beim düsteren Schein der Petroleumlampe eingenickt.
Sergej saß neben seiner Frau und strich ihr über die Haare. Sie waren mit Wosnizyns Medikamenten sehr sparsam umgegangen, hatten minimale Dosen genommen, aber inzwischen war der gesamte Vorrat aufgebraucht. Und neue waren nie mehr eingetroffen. In der ersten Zeit hatte Sergej jeden, auf den er traf, ausgefragt: die Männer aus den Karawanen, die Flüchtlinge. Kannte nicht irgendwer Eduard Georgijewitsch Wosnizyn? Hatte ihn nicht jemand getroffen? Immer ohne Erfolg.
Die Medikamente hatten für eine relativ lange, mehrjährige Remissionsphase gesorgt. Damals hatten Polina und er gehofft, die Krankheit für immer überwunden zu haben. Der kleine Denis wurde geboren, ein Junge, der für sein Alter ungewöhnlich klug und weit entwickelt war und gleichzeitig voller Lebensfreude steckte. Er wurde selten krank, fing früh an zu laufen und zu sprechen, und war seinen Eltern ein unerschöpflicher Quell der Freude.
Aber dann kehrte der Schmerz zurück, und nichts konnte ihn lindern. Sergej war etwas weniger stark davon betroffen als Polina – der weibliche Körper hatte sich als anfälliger für die Folgen der Strahlung erwiesen. Er litt nicht so sehr wie seine Frau, aber auch er konnte spüren, dass das Ende nahe war … Allein die Vorstellung, Denis zurückzulassen, war unerträglich.
Polina begann wieder zu atmen, erst keuchend, dann allmählich
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