Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
friedlicher.
»Die Welt ist so unglaublich klein, Serjoscha«, sagte sie und blickte ihn dabei aus geröteten, schmerzenden Augen an, in denen Tränen standen. »Heute habe ich Max besucht. Was glaubst du, von wem er mir erzählt hat.«
Sergej zuckte hilflos die Schultern.
»Von Wosnizyn. Er lebt.«
»Das kann nicht sein …«
»Er leitet die medizinische Abteilung … an einer der Moskauer Metrostationen.« Polina hatte mitten im Satz Luft geholt und lächelte ihren Mann schuldbewusst an.
Da war sie!
Die Hoffnung. Die Chance. Eine winzige Chance, eins zu tausend, eins zu hunderttausend.
Der Mensch, der sie heilen könnte … der vielleicht in der Lage wäre, sie zu heilen. Oder ihnen zumindest Aufschub gewähren könnte. Wenigstens noch drei Jahre. Oder eines. Denis wuchs heran, das konnte Sergej sehen. Polina würde sich nicht so schrecklich quälen. Nur noch ein paar Jahre leben!
Dabei hatte er gedacht, er hätte sich schon mit allem abgefunden. Hatte ihr nahes Ende für unausweichlich gehalten.
Vor kurzem noch hatte er gedacht, dass er in einem Jahr selbst in der Kirche unter den Ikonen liegen würde – kalt und steif. Und dabei hatte sich, so glaubte er, nichts in seinem Inneren gerührt.
Dass er womöglich Polina noch früher nach oben würde bringen müssen, sofern seine Kräfte dazu ausreichten, daran verbot er sich zu denken. Als ob er allein dadurch, dass er nicht daran dachte, dass ein geliebter Mensch bald nicht mehr bei ihm wäre, diesen von seiner Krankheit befreien konnte.
Er sah, wie schwach Polina in den letzten Monaten geworden war, ein Schatten ihrer selbst, sah, dass sie fast nichts aß. Sergej versuchte die schlimmen Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht: Seine Frau würde bald sterben.
Er hatte sich damit abgefunden. Aber jetzt …
Wenn Max nur nicht gelogen hatte, was Wosnizyn anging. Er, Sergej Kolomin, würde alles daransetzen, um das Medikament aufzutreiben …
Nur ein winziger Hoffnungsschimmer war vor seinen Augen aufgeflackert, und schon hatte sich alles verändert. In seinem Herzen war etwas entbrannt.
In der Metro also? Gut, dann würde er dort suchen.
Die Risiken waren ihm egal. Es war ihm egal, dass er auf dem Weg dorthin umkommen konnte. Wenn es diese Chance gab, seine Frau und sich selbst zu retten, dann durfte er sie sich nicht entgehen lassen. Er musste sich daran klammern, koste es, was es wolle.
Er würde nach Moskau gehen müssen, in die Metro, allein oder mit einer Karawane, und Wosnizyn finden; er würde wie ein Gespenst aus der Vergangenheit über dessen
Schwelle treten … Sie dachten, wir wären gestorben? Nein, wir leben noch. Sie sind uns noch was schuldig.
»Du kommst zu spät zu den Verhandlungen«, erinnerte ihn Polina.
»Die Karawane ist schon längst da«, entgegnete er gleichgültig. »Ist mir egal. Ich bleibe hier, bei dir. Das ist wichtiger …«
»Du willst nicht gehen?!« Polinas schwache Stimme ließ einen Hauch Überraschung erahnen.
»Nein, ich bleibe. Leg du dich hin … Möchtest du was trinken?«
»Da ist noch ein Rest Karottensaft … Aber wenn Denis aufwacht, wird er danach fragen …«
»Wenn er welchen will, borge ich welchen beim Nachbarn. Hat der Schmerz nachgelassen?«
Sie nickte und gab sich Mühe, dabei überzeugend zu wirken. Sie log.
»Ach, Serjoscha … Das wäre doch herrlich, nicht? Nach Moskau zu gehen und … Eduard zu finden. Und weißt du, was ich mir am meisten wünsche … die Bibliothek noch einmal zu sehen. Unsere Lenin-Bibliothek. Nur für einen kurzen Augenblick … Gesund zu werden und nach oben zu gehen, um sie anzuschauen. Und um mich zu erinnern. Wie es damals war, an dem Tag … Erinnerst du dich noch?«
Sergej brachte ihr den Saft, half ihr, sich auszustrecken, und deckte sie mit einer Decke zu.
»Natürlich. Natürlich erinnere ich mich.«
»Das wäre wunderbar, was?«
»Wir werden … Weißt du, was wir tun? Du siehst zu, dass du zu Kräften kommst. Und wenn es dir bessergeht,
passen wir eine Karawane ab und ziehen mit ihr nach Moskau … Und dann gehen wir als Erstes dorthin. Zur Polis und zur Lenin-Bibliothek. Angeblich heißt sie jetzt Große Bibliothek …«
»Versprichst du es?«
Polina schloss die Augen und atmete, den Kopf auf seine Schulter gebetet, gleichmäßig mit kaum hörbaren, seltenen Unterbrechungen.
»Ich verspreche es.«
In drei Tagen, dachte er.
Gott, schenk uns noch drei Tage …
Ich werde mich von der Arbeit in den Gewächshäusern befreien lassen und
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