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Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Kusnezow
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die wesentlichen Daten notierte. Ganz gleich, unter welchen Umständen der Mensch lebt, selbst in so schwierigen Zeiten wie jetzt, er kann es einfach nicht lassen, seine Intrigen zu schmieden, gegen seinen Nächsten zu kämpfen, ihn zu verleumden und zu belügen – alles nur, um selbst nicht zu straucheln oder um vielleicht irgendwo eine Sonderration zu ergattern. In diesem konkreten Fall hatte ein Nachbar den anderen verleumdet, der sich seinerseits nicht lumpen ließ und ebenfalls ausfällig wurde. Eine andere Familie wollte um jeden Preis einen alten Mann loswerden, den man bei ihnen untergebracht hatte; der jedoch weigerte sich unter Tränen. Ein erwachsener Sohn beklagte sich, dass es seiner Mutter so schlecht gehe, und bat darum, man solle sie in der Krankenabteilung aufnehmen und nicht mehr von dort entlassen, damit sie dort sterben könne.
    Sergej musste die Leute überreden, versuchen, sie zu versöhnen, Unerfüllbares versprechen, Wunder in Aussicht stellen – etwa die baldige Umsiedlung und eine Vergrößerung der Wohnfläche. Tatsächlich war Letzteres nicht zu erwarten, aber eine Umsiedlung war immerhin im Bereich des Machbaren, nur nicht allzu bald und nicht für alle. Die Planungsarbeiten für die Erschließung neuer Wohnräume
in den unterirdischen Stockwerken der Hochschule waren auf den Frühling verschoben worden.
    Es war ein Strom negativer Emotionen, in den Sina und Sergej eintauchten, doch gelang es ihnen immerhin, die notwendigen Fragen zu stellen und die entsprechenden Antworten zu notieren, die Maße der jeweiligen Wohneinheit in Erfahrung zu bringen und nicht zuletzt die richtigen Worte für die jeweilige Person zu finden. Und zwar für jeden andere – Worte, die nur für diesen Menschen bestimmt waren und nur auf ihn passten. Denn Worthülsen und Phrasen funktionierten nicht, davon hatte sich Sergej schon vor zehn Jahren, während des ersten Versuchs, überzeugen können. Damals hatte er noch das Gefühl gehabt, die alte Welt würde jeden Augenblick wiederauferstehen.
    Es gab auch Ausnahmen. Ab und zu trafen sie auf friedliche, ruhige Kolonisten, die bereitwillig auf ihre Fragen antworteten und im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben und der Führung der Gemeinde waren. Es waren Männer und Frauen unterschiedlichen Alters mit stumpfen, ergebenen Hundeaugen, die schweigend nickten, wenn Sergej vorsichtig andeutete, dass sie vielleicht ein wenig zusammenrücken müssten. Sie waren gebrochen. Er sah den Schmerz in ihren Herzen, begriff, wie unglücklich sie waren, konnte jedoch nichts für sie tun – außer ihnen insgeheim dafür zu danken, dass sie Sina und ihn nicht zerfleischten.
    Es verging ein anstrengender Abend mit Befragungen. Dann ein zweiter. Am dritten sah er Dina.
    Er sah sie im selben Moment, als er das Wohnabteil betrat. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf einer kleinen,
ordentlich gemachten Liege und warf ihm einen Blick von der Seite zu. Sie hatte ihn zweifellos erkannt. So wie er sie erkannte. Aber warum war sie hier, wo Sergej sie doch in einer ganz anderen Familie untergebracht hatte?
    Die Kolonisten – Ehemann, Ehefrau und ein zwölfjähriger Sohn – beantworteten ihre Fragen ausführlich, beklagten sich maßvoll, hauptsächlich über die schlechte Ernährung, und machten insgesamt den Eindruck von vernünftigen und friedliebenden Leuten. Auf die Frage hin, wie die Frau namens Dina zu ihnen gekommen war, führte der Hausherr Sergej auf die andere Seite des Zimmers und teilte ihm mit leiser Stimme mit, er habe der Frau von sich aus angeboten, bei ihnen zu wohnen, nachdem sie einige Tage zuvor zum zweiten Mal obdachlos geworden war und in den Gewächshäusern oder auf dem Boden in der Kantine genächtigt hatte.
    »Was heißt, zum zweiten Mal? Und wieso obdachlos?« Sergej war erschüttert von der Nachricht. So eine Ungeheuerlichkeit war ihm noch nie untergekommen. »Ich habe sie doch vor etwa einem Monat selbst bei …«
    »Ich weiß nichts Genaues«, sagte der Mann und kratzte sich verlegen am Bauch, der in einer warmen, alten, dunkelblauen Strickjacke steckte. »Aber ich habe gehört, dass sie ziemlich seltsam ist. Ich weiß nicht, ob sie bei den anderen Familien von selbst weggegangen ist oder die sie rausgeschmissen haben … Angeblich hat sie sich ungehörig benommen, und dann …«
    »Rausgeschmissen?!« Sergej seufzte. »Warum hat mir keiner was davon gesagt? So kann man doch nicht mit einem Menschen umgehen!« Am liebsten wäre er augenblicklich
zu

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