Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
ehrenamtlich.
Sergej hatte diese Volkszählung schon seit langem durchführen wollen – und er war überzeugt, dass sie so nötig war wie die Luft zum Atmen –, aber gleichzeitig fürchtete er dieses Unternehmen, denn seine angeborene Sensibilität machte die Beschäftigung mit den Kolonisten, mit ihren Nöten, ihren Intrigen und ihren Tränen zu einer echten Qual für ihn.
Im Sommer war die Bevölkerung der Kolonie auf über sechshundert Einwohner angewachsen. Eine wahnsinnige Zahl angesichts des extrem begrenzten Wohnraums.
In der letzten Zeit aber kam auf ein Neugeborenes in etwa ein Toter, so dass das Wachstum praktisch wieder gleich null war. Wer von außen dazustieß – was äußerst selten passierte –, wurde bislang ebenfalls durch einen Toten ausgeglichen oder starb selbst bald danach. Die jungen Mädchen waren alles andere als gebärfreudig, selbst wenn
sie einen Partner gefunden hatten. Der Gemeinderat der Kolonie riet zur Empfängnisverhütung, damit man später nicht zum Mittel der Abtreibung greifen musste. Zwar gab es Instrumente und Betäubungsmittel im Überfluss, aber dennoch führte eine Abtreibung unter den jetzigen Bedingungen nicht selten zur Unfruchtbarkeit. Die Kirche in Gestalt von Vater Serafim trat bei den Ratssitzungen immer wieder mit flammenden Schmähtiraden gegen die Ketzerinnen auf und verlangte, Abtreibungen und Verhütung zu verbieten, aber die Ratsmitglieder fürchteten nichts mehr als eine demografische Explosion, die unter den hiesigen Gegebenheiten schon bei einem geringen Anstieg der Geburtenrate gegeben wäre. Daher hörte man die Reden des Priesters mit unerschöpflicher Geduld an, um hinterher alles beim Alten zu belassen.
Was die Wohnsituation der Kolonisten anging, so war diese nicht in allen Fällen gerecht gelöst. Es gab beispielsweise kleine Familien, die in geräumigen Wohnabteilen wohnen durften, während sich andererseits größere Lebensgemeinschaften in winzige Zimmer pferchen und jeden Quadratzentimeter sinnvoll nutzen mussten. Diesem Zustand sollte abgeholfen werden. Außerdem war es an der Zeit, das Einwohnerverzeichnis der Kolonie auf den neuesten Stand zu bringen, festzuhalten, wie viele Männer und wie viele Frauen im gebärfähigen Alter hier lebten; ferner wie viele ältere Menschen, wie viele Kinder, wie viele stillende Mütter und sogar – wenn sich das nur so leicht herausfinden ließe – wie viele Schwangere und in welchem Monat.
Wenn man in Betracht zog, dass alle Mitglieder des Komitees für soziale Angelegenheiten tagsüber einer Vollzeitbeschäftigung
in einem anderen Bereich nachgingen, war die Volkszählung eine Aufgabe, die weit länger als eine Woche in Anspruch nehmen würde.
Aber Sergej hatte diese Zeit nicht. Er arbeitete anstatt zu schlafen und zu essen, und er versuchte, früher mit seinen anderen Aufgaben fertig zu werden. Er wollte diese Volkszählung beenden und sich auf den Weg machen. Wenn er nur nicht zu spät kam …
Das letzte Mal hatte man vor zehn Jahren einen ähnlichen Versuch unternommen, aber damals war das Unternehmen im Sand verlaufen. Der Rat hatte beschlossen, dass die Umfrage zu viel Zeit von anderen, wichtigeren Aufgaben abzog, und die Menschen hatten sich darüber beschwert, dass sie in ihrer Freizeit mit Fragen aufgestört wurden.
Dieses Mal jedoch hatte Sergej vorgesorgt, denn er war der Ansicht, dass sich die Kolonie ohne eine zuverlässige demografische Erhebung nicht entwickeln konnte. Deshalb waren schon einen Monat im voraus Plakate in der Kantine aufgehängt worden, auf denen die Gemeinde in Schönschrift über das Vorhaben informiert wurde: »Der Gemeinderat teilt folgende Sonderverordnung mit …« Die Kolonisten wussten also Bescheid und hatten ausreichend Zeit gehabt, sich an den Gedanken der Befragung zu gewöhnen. Es bestand die berechtigte Hoffnung, dass dieses Mal weniger Beschwerden über die Störung während der privaten Ruhezeiten eingehen würden.
Da Sergej wusste, dass die Angehörigen des Militärs und die Vertreter der Wissenschaften normalerweise nicht murrten, hob er sich diese für später auf und begann mit einer
anderen Kategorie von Mitbewohnern. Sogleich geriet er Hals über Kopf in einen Sumpf von Stöhnen, Klagen, tragischen Geschichten, Bitten, Forderungen, Weinen und Schimpfen.
So ist sie nun mal, die menschliche Natur, dachte er, während er wieder einmal einem Kolonisten lauschte, dessen Wohnfläche ausmaß und gelegentlich einen Blick mit Sina tauschte, damit sie
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