Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Vorurteilen zu.
»In der ersten Familie hat Dina versucht, die Mutter umzubringen«, sagte Stepan. »Nur eine Kleinigkeit hat es verhindert … Aber immerhin begriff der Ehemann da endlich, dass die Klagen seiner Frau nicht auf Einbildung beruhten … Sie setzten sie vor die Tür.«
»Davon hab ich nichts gewusst«, sagte Sergej verwirrt.
»Dann wurde sie von einer anderen Familie aufgenommen. Zufällig lebte auch dort ein Junge im Alter ihres verstorbenen Sohnes … Diesmal legte sich Dina mit dem Mann an. Wieder klappte es nicht. Dann schlief sie einige Nächte in einem der Treibhäuser. Meiner Mascha tat sie leid. Unser Sohn Aljoscha ist jünger als Ruslan, aber das hielt Dina nicht ab. Sie ist jetzt seit zwei Wochen bei uns, aber glaub mir, Sergej, wenn du sie uns nicht abnimmst, kann ich für nichts garantieren.«
»Sie ist ein sehr unglücklicher und sehr kranker Mensch«, sagte Sergej. »Woher kennst du die Einzelheiten über ihre Familie?«
»Während der Arbeit im Treibhaus konnten einige Frauen sie zum Sprechen bringen … Das eine oder andere haben sie sich natürlich selbst zusammengereimt. Dina murmelt die ganze Zeit vor sich hin: ›Er muss irgendwo hier sein, mein Russik …‹ Es ist gruselig. Sie hat wirklich eine Schraube locker, da bin ich mir sicher. Jedenfalls bist du bei uns ja für soziale Angelegenheiten zuständig, und ich bitte dich, unternimm etwas. Lass dir was einfallen.«
Sergejs Haltung erkannte Denis sofort: Papa beabsichtigte, die Frau zu ihnen zu holen.
Sergej stand vom Tisch auf.
»Lass uns gehen, Stepan.« Zu Denis gewandt sagte er: »Du bleibst zu Hause.«
Eine Stunde später kehrte sein Vater zurück. Hinter ihm trat mit gesenktem Kopf eine nicht sehr große, dunkelhaarige Frau in sauberer Kleidung in das Wohnabteil. Sie sieht aus wie eine Krähe, dachte Denis, der auf dem Bett saß und ihnen entgegenblickte. Sein Vater trug eine Tüte mit ihren Sachen darin.
Der Junge grüßte höflich, erhielt jedoch keine Antwort.
»Setz dich an den Tisch, mein Sohn«, bat Sergej, nachdem er die Tüte auf Denis’ Bett gelegt und sich zu Dina gewandt hatte. »Ihr Platz ist hier«, fuhr er trocken fort. »Der Junge schläft so lange bei mir. Ansonsten bleibt alles beim Alten. Sie arbeiten dort, wo man Sie einteilt.«
Er machte eine Pause. Dina stand mit gesenktem Kopf mitten im Zimmer. Ihr Gesicht war von ihren dunklen Haaren verdeckt.
»Ich möchte, dass Ihnen klar ist«, sagte Sergej mit Nachdruck, »dass dieser Junge hier Denis heißt. Er ist nicht Ruslan und wird es auch niemals sein. Sie können es sich ganz leicht merken, Dina: Das ist Denis. Und er ist mein Sohn. Alles andere ist ausgeschlossen. In meinem Haus gilt dieses Gesetz, und es wird nicht daran herumgedeutelt. Wenn Sie es befolgen, wird unser Leben hier gut verlaufen. Wenn Sie es nicht befolgen, werden wir Sie bei einer Familie ohne Kinder unterbringen. Was passiert, wenn Sie sich nicht beruhigen und alle Varianten, Sie irgendwo unterzubringen, ausgeschöpft sind, das weiß ich auch nicht. Wir haben noch nie einen Flüchtling an die Oberfläche geschickt.
Aber wer weiß, alles geschieht irgendwann zum ersten Mal. Haben Sie mich verstanden?«
Einige Augenblicke stand Dina noch reglos da, ehe sie kaum wahrnehmbar mit dem Kopf nickte.
»Sehr gut«, sagte Sergej. »Sohn, räum dein Bettzeug fort. Im Schrank finden Sie Bettwäsche. Und dann machen wir uns alle zum Schlafen fertig. Morgen müssen wir früh raus.«
Denis war schon am Einschlafen, hatte es sich in der Gegend der väterlichen Achselhöhle gemütlich gemacht, als er leise sagte: »Ich hatte große Angst nach Mamas Tod. Ich dachte, du … verlässt mich auch. Aber das tust du nicht, Papa, nicht wahr? Wir sind doch jetzt nur noch zu zweit: Ich bin bei dir, und du bist bei mir.«
Sergej entgegnete nichts, sondern drückte nur fest die kleine Hand seines Sohnes. Und Denis begriff, dass er den Hämmerchen mit seinen Worten sehr dabei geholfen hatte, den Eispanzer um Herz, Seele und Geist seines Vaters aufzubrechen.
»Was diese Dina angeht«, sagte der Chirurg, »ich fürchte, da kann ich dir nicht weiterhelfen. Ich müsste sie zumindest untersuchen und mit ihr sprechen, und sie wird wohl kaum bereit sein, offen zu mir zu sein. Was dich betrifft, kann ich dir leider nicht viel Tröstliches mitteilen. Du bist ja kein zartes Fräulein, das geschont werden muss. Nach den Laborwerten zu urteilen, verschlechtert sich dein Zustand. Nicht so zügig, wie es
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