Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
jetzt wieder zu Gesicht.
»Hilf ihnen«, sagte es. Was meinte es damit? Sollte er den Hämmerchen helfen? »Dein Vater darf nicht so weitermachen«, fuhr es fort. Denis verstand das sehr wohl, aber was konnte er tun? Diese Eispanzer waren einfach zu dick.
»Sprich mit ihm. Über irgendwas. Du wirst sehen, die Worte kommen von selbst. Wart nicht länger …«
Denis öffnete die Augen.
An diesem Tag waren erste Veränderungen im Verhalten des Vaters zu erkennen: Er aß die gesamte Mittagsmahlzeit auf, die sein Sohn ihm aus der Kantine mitgebracht hatte. Sein Gesicht bekam wieder etwas Farbe, die Augen wirkten nicht mehr so stumpf. Denis konnte sehen, dass sein Vater ins Leben zurückkehrte.
Sergej schwieg zwar noch immer, aber sein Schweigen war jetzt anders als vorher. Er ging im Zimmer auf und ab, trat ein paarmal nach draußen auf den Flur, ehe er auf einmal aus dem Stapel in der Ecke ein Buch von Márquez herauszog, sich aufs Bett setzte und zu lesen begann.
Am Abend dann tauchte ein zweiter Gast auf, und das Leben von Vater und Sohn veränderte sich zum zweiten Mal in zehn Tagen.
Denis war mit seinen Freunden im Spielzimmer: Sie kämpften mit Außerirdischen, die die Erde erobert und ihre Einwohner in die Keller und U-Bahn-Tunnel gejagt hatten. Die Mission erforderte völlige Selbstaufgabe und natürlich
sehr viel Zeit, weshalb er später als sonst nach Hause zurückkehrte.
In ihrem Wohnabteil saß am Tisch ein unrasierter Mann in einer alten, dunkelblauen Wolljacke und einer ausgeleierten Trainingshose. Daneben saß sein Vater. Er und der Gast – unterhielten sich . In den letzten Tagen war dem Jungen die Stimme seines Vaters so fremd geworden, dass er jetzt wie vom Blitz getroffen auf der Schwelle stehen blieb und keinen Schritt vorwärts tun konnte.
Sergej blickte ihn an.
»Und das ist Denis, unser Sohn«, sagte er, als sei daran nichts Ungewöhnliches. »Warum stehst du so steif da? Komm rein, sag ›Guten Tag‹ … Das ist Onkel Stepan, er ist Mechaniker und sorgt für die Beleuchtung und die Belüftung in der Kolonie. Aber das ist wohl noch zu kompliziert für dich …«
Denis erinnerte sich dunkel an Onkel Stepan. Bei ihm hatte er seinen Vater gefunden, in jener Nacht, als Mama starb.
»Guten Tag, Denis«, sagte Onkel Stepan.
»Guten Tag«, antwortete Denis und verzog sich in seine Ecke.
Er hatte den Anfang des Gesprächs verpasst und damit den Moment, als sein Vater wieder angefangen hatte zu sprechen. Denis war sich ganz sicher gewesen, dass es irgendwann passieren würde, ohne jedoch zu ahnen, dass es heute schon so weit war. Er war sehr glücklich darüber. Jetzt stimmte er sich ohne große Anstrengung auf Stepan ein, dessen Gedanken und Stimmung von Verwirrung, Zweifel und einer gewissen, von Angst diktierten Entschlossenheit
geprägt waren. Der Junge begriff schnell, wovon die Rede war.
Irgendeine Frau, die vor mehreren Wochen mit jener nächtlichen Karawane gekommen war und dank der Fürsprache seines Vaters in der Kolonie hatte bleiben dürfen, konnte offenbar keinen passenden Unterschlupf finden. Stepans Familie war bereits der dritte Ort, wo man sie aufgenommen hatte. Aus den beiden vorigen Haushalten war sie fortgejagt worden, woran sie selbst schuld gewesen war … Denis, der mit geschlossenen Augen auf seinem Bett lag, runzelte an dieser Stelle die Stirn: Offenbar begriff die Frau einige Dinge nicht so recht. Nachdem sie vor einiger Zeit ihren Mann und ihren Sohn verloren hatte, war sie … verrückt geworden und sah nun in jedem Jungen, der in etwa das Alter ihres verstorbenen Sohnes hatte, ihren Ruslan. Nichts und niemand vermochten sie davon abzubringen oder sie vom Gegenteil zu überzeugen. In jeder Familie hatte sie anfangs unmerklich, aber doch zielstrebig bei dem Sohn ihrer jeweiligen Gastgeber die Rolle der Mutter übernommen, denn sie hielt den fremden Jungen für ihren Ruslan. In den ersten Tagen wirkte das harmlos und unaufdringlich, fast wie ein Spiel, doch mit der Zeit nahm die Situation stets einen dramatischen Verlauf: Die Frau verstand es, ein geschicktes Netz aus Fürsorge um den jeweiligen Jungen zu weben und die echte Mutter immer weiter ins Abseits zu drängen, um diese möglichst in allen Bereichen zu ersetzen. In den ersten beiden Familien hatten die jeweiligen Familienväter lange nichts bemerkt, denn sie arbeiteten viel, waren selten zu Hause, und als die Ehefrauen anfingen, sich zu beklagen,
schrieben sie das zunächst Eifersuchtsgefühlen und
Weitere Kostenlose Bücher