Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
… bei Polina der Fall war – möge die Erde ihr leicht sein –, aber doch …«
»Ganz ehrlich«, sagte Sergej, »wie lange habe ich noch?«
»Auf die Woche genau kann ich das nicht sagen … Ich schätze, noch zwei, maximal drei Monate.«
Sergej, der gerade angefangen hatte aufzutauen, hatte das Gefühl, als wäre in seinem Innern ein Eimer Eiswürfel ausgekippt worden, und diese Würfel schnitten ihn nun mit ihren scharfen Kanten in die Seele und ließen sie wieder neu gefrieren.
Er blieb ihm nichts anderes übrig, als demütig den Tod zu erwarten.
Der Erlösung und dem Wiedersehen mit Polina entgegenzusehen. An einem zärtlichen, sommerlichen Tag, im kühlen Schatten der Fassade …
Und was würde aus Denis werden?
Was sollte schon mit ihm sein? Er war gesund und würde mit Gottes Hilfe überleben. Er würde die Schule beenden, eine Arbeit finden, eine Familie gründen und den Platz seines Vaters ausfüllen … Die Kolonie war ungeachtet ihrer schlechten Führung ein sicherer Ort und würde sich noch viele Jahre halten können. Denis würde hier ein Heim und eine Aufgabe finden. Sogar eine Ehefrau hatte er schon in Aussicht: Lisa, die Tochter des Priesters.
Musste er sich wirklich um seinen Sohn Sorgen machen?
Es war unmöglich, sich keine Sorgen zu machen.
»Heute kam Arkadi vorbei, der Busenfreund aller Finanziers«, sagte der Chirurg, der Sergej die ganze Zeit beobachtet hatte. »Er bat mich, dir auszurichten, dass Pjotr Saweljewitsch dringend mit dir sprechen will.«
»Worüber?«, wollte Sergej wissen.
»Das hat er mir nicht gesagt«, entgegnete der Chirurg.
Sergej hörte Pjotr Saweljewitsch nur mit halbem Ohr zu, da er noch völlig absorbiert war von der Diagnose des Chirurgen. Er erinnerte sich genau daran, dass der Arzt vor gar nicht langer Zeit eine ähnliche Frist für Polina prognostiziert hatte. Wie lange hatte sie danach noch gelebt?
Zu dumm … und Denis hatte ihn gebeten, ihn nicht zu verlassen, als ob er es geahnt hätte … Wie könnte Sergej jetzt seinen einzigen leiblichen Sohn im Stich lassen?
Pjotr Saweljewitsch verstummte plötzlich. Sergej versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, und blickte ihn an.
»Ich glaube, ich weiß, woran du denkst«, schnarrte der Vorsitzende.
Sergej war nicht überrascht. Die Kolonisten waren daran gewöhnt, dass ihr Oberhaupt alles wusste. Und so sollte es auch sein: Gottes Stellvertreter in diesem Reich der Ratten musste allgegenwärtig sein, nur so konnte sich das morsche kleine Boot über Wasser halten.
»Wir können dir nicht helfen. Hätten wir das Medikament gehabt … hätten wir deine Frau nicht sterben lassen. Aber wir haben es nicht. Und auch für dich sehe ich nur eine Chance: bis zum Schluss zu kämpfen, um dich selbst und Polinas Andenken nicht zu verraten.«
»Ihr könnt mir nicht helfen …«, wiederholte Sergej bitter.
»Als Arkadi dir verbot, zur Metro aufzubrechen, war ich … krank. Aber jetzt geht es mir wieder besser, und ich sage dir: Es war ein wahnsinniger Plan. Du hättest es niemals allein bis zur Metro geschafft. Und in der Metro … Es ist nicht so einfach, dort zu überleben. Du wärst nicht rechtzeitig zurückgekommen. Mach dir keine Vorwürfe.«
Seine Worte waren wahr, aber wieder berührten sie Sergej kein bisschen. Er wollte nicht sterben, und zu leben blieb ihm nicht mehr lange …
»Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte der Vorsitzende.
»Eine Aufgabe?«, fragte Sergej gleichgültig.
»Der neue Kolonist, dieser Max, ist praktisch gesund. Er interessiert mich. Bisher durchschaue ich ihn noch nicht so ganz. Schließlich ist immer noch nicht klar, in welcher Mission er in der Nähe der Kolonie unterwegs war. Morgen hast du die Gelegenheit, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Ihr geht zu viert nach oben in die Stadt. Es gibt zwei Anlaufstellen: das Warenlager der Eisenhütte und die zentrale Bibliothek. Du wirst ihn beobachten und dann einen genauen Bericht schreiben. Wolodja wird euch anführen. Außerdem wird Angin mit von der Partie sein – aus der ehemaligen Kampftruppe von Jedis Karawane.«
Sergej kannte Angin: Er war ein gestandener Kämpfer.
»Wenn mir morgen etwas zustößt«, entgegnete Sergej, »dann bleibt Denis ganz allein. Wer wird dann …«
»Der Ausflug ist ein Spaziergang«, schnitt das Oberhaupt ihm das Wort in einem Ton ab, der keinen Widerspruch zuließ. »Die Entfernungen zur Eisenhütte und zur Bibliothek sind geradezu lächerlich: Nirgendwo gibt es Plorge , und auch
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