Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
schäbigen Pullover gezwängt, der kaum den Bauchnabel bedeckte, dazu trug er ein Paar Damen-Jeans, die zwar an der Hüfte gut passten, dafür jedoch nicht bis zu den Knöcheln reichten. Seine nackten Füße steckten in zu großen, kaputten Plastiklatschen. Alles in allem machte Max einen erstaunlichen Eindruck. Als er eintrat, schien er mit seinen Schultern die Wände der kleinen Wohnzelle auseinanderzuschieben.
Sergej richtete sich im Bett auf. Da Feiertag war, befand sich auch Denis in der Wohnung. Der Junge hörte auf, mit seinen hölzernen Soldaten zu spielen, die ihm einer der Schnitzmeister der Kolonie geschenkt hatte, und blickte dem Gast entgegen.
»Na also«, sagte Max, während er sich umsah, »alles nicht so einfach in dieser komplizierten Welt … Grüß dich, Jungchen, komm doch mal her, damit wir uns miteinander bekanntmachen können.«
Denis trat mit geröteten Wangen aus seiner Ecke hervor und setzte sich auf den Bettrand.
»Wie heißt du?«
»Denis …«
»Denis? Was ist denn das für ein Mädchenname! Nein, das geht nicht. Dan muss das heißen! Ich bin Max und du bist Dan! So haut’s hin. Na, schlag ein, Dan!«
Mit diesen Worten hielt er dem Jungen seine riesige Pranke hin, der schüchtern seine kleine Hand hineinlegte. Max drückte sie leicht, dann runzelte er plötzlich die Stirn.
»Kenne ich dich irgendwoher?«
Denis wurde endgültig rot, senkte den Kopf und schüttelte ihn heftig.
»Na ja, schon gut.« Max ließ die Hand des Jungen los. »Beschäftige dich jetzt erst mal mit deinem Kram; ich muss mit deinem Papa reden.«
Denis zog sich in seine Zimmerecke zurück, und Max setzte sich stattdessen auf den Bettrand. Sergej blickte ihn nicht an.
»Du riechst, Kumpel«, sagte Max. »Sei nicht sauer. Ich meine das nicht böse. Ist mehr so eine Art Gesprächseinstieg, gewissermaßen … Allen tut es leid um deine Polina. Die Leute mochten sie wirklich. Für mich hat sie auch ’ne Menge getan. Ich bin ja nicht blind, ich hab gesehen, da stirbt ein Mensch. Aber du weißt selbst, jedem ist seine Frist zugemessen. Außerdem hat sie dir einen Sohn hinterlassen. Also lass du sie jetzt nicht im Stich. Ich wette mit dir, um was du willst, dass sie dir jetzt von oben aus zusieht, dass sie sich sorgt und keine Ruhe findet. Sie überlegt, wie sie dich wachrütteln könnte …«
Sergej zuckte zusammen. Als ob er nichts gemerkt hätte, fuhr der andere fort: »Ich bin nicht gekommen, um dich zu überreden. Das habe ich nicht nötig. Und das kann ich auch gar nicht. Ihr habt hier genug von dieser Sorte Leute, die andere überreden, den Popen und eure Räte. Obwohl es mir so vorkommt, als würden die vor allem reden und nicht allzu viel tun … Polina hat mir eine Menge Gutes
über dich erzählt, und jetzt lässt du dich so hängen. Ist das gut? Nein. Hier in der Kolonie scheinen die meisten nur eurem Saweljewitsch zu vertrauen, aber der ist alt, und dir vertrauen sie noch, soviel ich gehört habe. Ich breche bald nach Moskau auf. Aber du musst hier leben. Nun komm schon, Junge, Kopf hoch.« Er schwieg. Eine Welle der Kraft und Sicherheit ging von ihm aus. »Ich hab noch nie so viele Worte auf einmal gemacht … Na dann, bis später.«
Max stand entschlossen auf und verließ die Wohnung.
Denis saß noch immer in seiner Ecke, die Augen geschlossen und hochkonzentriert. Er sah , wie die Worte des Gastes einen großen, durchsichtigen, aber festen Kokon formten, eine Art Umhang, der seinen Vater langsam von allen Seiten umfing. Schon war Sergej, der noch immer teilnahmslos auf dem Bett saß, völlig davon eingehüllt.
Im Inneren des Kokons hatte eine mühevolle Arbeit begonnen: Tausende mikroskopisch kleiner Hämmerchen klopften unablässig gegen Sergejs Bewusstsein, schlugen auf seine Seele und sein Herz ein, um den dicken Eispanzer aus Trauer und Gleichgültigkeit zu zerstören, der in der Nacht, als Polina starb, als dünne, zerbrechliche Schicht entstanden und von Tag zu Tag dicker geworden war.
Die haben was zu tun, dachte der Junge, während er den Hämmerchen zusah. So leicht wird Papa sich nicht geschlagen geben.
Wieder tauchte das Bild von dem ernsthaften Mädchen mit den Sommersprossen und der Stupsnase in seinem Innern auf. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen, zuletzt in der Nacht, als Max in die Kolonie gebracht worden war. Nach Mamas Tod hatte Denis sehr gehofft, sie würde erscheinen
– gerade in jenen Tagen hatte er selbst so dringend Hilfe benötigt. Aber er bekam das Mädchen erst
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