Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Danilowitsch leise und mit angespannter Stimme, während der Strahl seiner Lampe über die Stufen glitt. »Das ist schlecht.«
»Wieso?«, fragte Sergej.
»Wir kommen nicht oft hierher. Normalerweise lagert sich von einem Besuch zum nächsten eine Staubschicht auf den Stufen ab. Aber diesmal ist nichts davon zu sehen. Das heißt, hier war vor kurzem jemand. Also, aufgepasst, Jungs. Angin, wie sieht es bei dir aus?«
»Hinter uns ist alles sauber«, ertönte Angins heisere Stimme.
Und dann waren sie am Ende der Treppe angekommen. Die Männer standen auf festem Betonboden.
»Schaut euch das an …«, murmelte Max.
Der weitläufige Lagerraum vor ihnen sah aus, als hätte dort ein gewaltiger Kampf stattgefunden. Überall lagen umgeworfene, verbogene und zerbrochene Metallschränke
und -ständer herum, überall war Blut; der Boden war übersät mit Maschinen- und Ersatzteilen, die ebenfalls zerbrochen und nutzlos waren.
Und die Plorge : Das Streulicht der Lampen erfasste Dutzende von Blut überströmte Körper mit aufgerissenen Rachen, durchtrennten Kehlen und ausgefressenen Augen.
Die Luft war erfüllt von einem lauten, gleichmäßigen Summen und dazwischen, wie Einsprengsel, den schmatzenden Geräuschen von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Insekten.
»Wir müssen verschwinden«, sagte Max. »Ehe sie anfangen, sich für uns zu interessieren …«
Aber Wladimir Danilowitsch ging entschlossen und mit präzisen Bewegungen vorwärts. Aufs Äußerste bemüht, keinen Lärm zu machen, stieg er geschickt über Schubladen und umgekippte Regale, umrundete die Leichen der Bestien und trat nicht einmal auf eines der herumliegenden Maschinenteile.
»Bleib stehen«, sagte Angin heiser und strich sich über die Kehle.
Wladimir Danilowitsch erstarrte sogleich wie vom Blitz getroffen. Seine Brustlampe beleuchtete jetzt ein grauenvolles Bild.
Grauenvoll und – verdammt nochmal, auf seine Weise irgendwie sogar majestätisch …
Die mächtigen Körper der toten Plorge waren entlang der Wand dutzendweise ordentlich aufgestapelt worden. Ein gewaltiges, grau-braunes Gebilde war entstanden, das, von Blut überzogen, vor sich hin vibrierte, summte und schmatzte. Unzählige große, behaarte Insekten krochen kreuz und
quer in dieser Wand aus totem Fleisch umher, umkreisten sie fliegend.
»Hummeln …«, flüsterte Max und erschauderte. »Sie brüten da drin … Das ist nicht gut …«
Wer hatte diese Zellen gebaut?, fragte sich Sergej. Wer hatte all diese Plorg-Kadaver aufeinandergestapelt? Hatten das wirklich die Insekten getan? Aber dafür musste man doch koordiniert zu Werke gehen … musste anführen, sich unterordnen … Dann ausgleichen, damit die Wand fest würde … Oh Gott …
»Die Kleinen haben sich ein Nestlein gebaut …«, flüsterte er. »Danilytsch, solange wir noch eine Chance haben … Oder bleibst du hier?«
5
Nachdem Wladimir Danilowitsch seinen Bericht beendet hatte, herrschte zunächst Schweigen. Die Ratsmitglieder überdachten das soeben Gehörte. Sergej ließ den Blick über die Gesichter der Anwesenden gleiten: Keine Miene glich der anderen. In den Zügen der Männer konnte er Unglauben, Angst, Skepsis, Spott, Gleichgültigkeit, Nachdenklichkeit, Verständnislosigkeit und Verwirrung erkennen.
»Und warum habt ihr den zweiten Punkt nicht mehr aufgesucht?«, wollte Walentin Walentinowitsch wissen. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie, Kolomin, uns doch erst kürzlich vorgeworfen, dass wir blind seien hinsichtlich der Wichtigkeit von Freizeitgestaltungsmöglichkeiten für die Kolonisten, und jetzt sind Sie selbst …«
»Wir waren der Meinung, dass der Rat unverzüglich über das, was wir gesehen hatten, informiert werden müsste«, entgegnete Sergej. »Wir haben lange geglaubt, dass die Plorge die schlimmsten Feinde des Menschen da oben sind. Einige Male erhielten wir Hinweise auf riesige fliegende Echsen, aber keiner von uns hat sie je mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen. Die Plorge dagegen haben wir sehr
wohl gesehen. Sie sind das perfekte Beiwerk eines nächtlichen Alptraums. Aber was wir heute in dem Eisenwarenlager erlebt haben, sprengt all unsere bisherigen Vorstellungen von der Welt, die uns umgibt. Zumindest hinsichtlich der Frage der Bedrohung für den Menschen als biologische Art innerhalb der Hochschule und in ihrer näheren Umgebung. Es ist ein Gegner aufgetaucht, der sehr viel schrecklicher und zahlreicher und schwieriger zu fassen ist als die Plorge. Ich habe keine Vorstellung, wie
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