Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
allerdings ohne großen Erfolg. Und sie stinken nun mal – ich kläre sie regelmäßig über Hygienemaßnahmen auf, aber das nützt überhaupt nichts. Seltsam, dass diese Menschen in zwanzig Jahren so degenerieren konnten! Ich bin für sie so etwas wie ein Berater. Ich helfe ihnen, unterstütze sie in praktischen Fragen des täglichen Lebens und in Sachen Verteidigung. Mehr intuitiv, denn was bin ich schon für ein Militärberater … Aber die Höhlenmenschen haben inzwischen ein paarmal kräftig eins auf die Nase bekommen, und seither stehlen sie kein Öl und Petroleum mehr. Kurz, ich werde hier geachtet.«
»Und wie geht es Ihrer Tochter«, fragte Sergej.
»Meiner Tochter?« Tichon Ignatjewitsch wiederholte die Frage in einem unnatürlich beiläufigen Ton. Seine Augen glitzerten feucht. »Sie lebt. Aber ehrlich gesagt glaube ich manchmal, dass es für sie besser wäre … Ihr Zustand ist schon seit vielen Monaten unverändert. Manchmal kommt sie zu sich, aber nur für kurze Zeit. Vier von den Talfrauen, die besten, kümmern sich rund um die Uhr abwechselnd um sie. Nur diese Frauen haben keine Angst, sie anzusehen, ihr Umschläge zu machen, sie trocken zu reiben …«
Er hustete und verstummte.
Denis, der die ganze Zeit auf dem Schoß seines Vaters verbracht hatte und nach dem leichten Imbiss scheinbar wieder eingedöst war, rührte sich plötzlich, sprang auf den Boden und ging auf Tichon Ignatjewitsch zu.
»Sohn …«, rief Sergej erschrocken.
Aber der reagierte nicht, trat zu dem Alten und fragte leise: »Sagen Sie, bitte, Ihr Bein … Ist das eine alte Wunde, aus der Zeit, als Sie noch in der anderen Stadt lebten? «
»Ja, richtig«, krächzte Tichon etwas verwundert und blickte den Jungen an. »Nach der Katastrophe ereignete sich an der Station Petrogradskaja in St. Petersburg … eine unschöne Geschichte. Ich denke nicht gern daran …«
»Zeigen Sie sie mir?«
»Was?« Tichon Ignatjewitsch begriff nicht gleich, was Denis meinte.
»Die Wunde.«
»Sohn«, sagte Sergej beunruhigt, »das gehört sich …«
Denis machte eine abwehrende Handbewegung.
Der Alte musterte einige Augenblicke lang das unschuldige, konzentrierte Gesicht des Jungen, ehe er sich vorbeugte und ächzend die schwere, aus Tierhäuten zusammengenähte Hose hochzuziehen begann.
Max meldete sich zu Wort. »Woraus macht ihr eure Kleidung?«
»Die Häute kaufen wir bei den Karawanen. Ab und zu tauschen wir auch mit den Höhlenmenschen, wenn gerade mal Waffenstillstand herrscht. Manchmal ziehen die mutigeren unter den Talmenschen in kleinen Gruppen in den Wald und erlegen dort Tiere, kleinere und mittelgroße. Aber der Wald ist gefährlich, und es kommen nicht selten Männer dabei um. Zusammengenäht werden die Häute dann von den hiesigen Schneiderinnen, mehr schlecht als recht …« Er drehte das Bein zu Denis hin. »Hier.«
Über die ganze Wade des linken Beines, die nur spärlich mit grauen Haaren bewachsen war, zog sich vom Knöchel bis unters Knie eine hässliche dunkelrosafarbene Narbe.
Angin, Max und Sergej sahen zu Denis hinüber. Der trat noch näher, ließ sich auf die Knie und sagte, ohne Tichon anzusehen:
»Haben Sie keine Angst, es tut nicht weh …«
Langsam legte er seine linke Hand auf das untere Ende der Narbe und Sekunden später die rechte auf das obere Ende.
Zuerst geschah nichts. Alle Anwesenden waren wie erstarrt, und Tichon Ignatjewitsch sah den Jungen mit höchster Verwunderung an. Dann schwebte ein feiner, kaum wahrnehmbarer Geruch nach verbrannten Leitungen in der Luft … Und ein Ton. Leise, monoton, ähnlich wie das Summen einer Mücke.
Denis hockte mit geschlossenen Augen auf den Knien und hielt seine Hände an das Bein des Alten.
Als der Junge endlich die Augen öffnete, wusste keiner, wie viel Zeit vergangen war: eine Stunde oder wenige Minuten. Denis nahm die Hände von der Narbe, erhob sich und ging schwankend wie ein Betrunkener und ohne den erstaunten Tichon Ignatjewitsch zu beachten, zu seinem Vater zurück.
»Ich bin müde, ich muss schlafen …«, murmelte er. »Papa, ich bin so müde …«
Sergej fasste ihn unter den Armen und setzte ihn sich auf die Knie. Der Alte fand endlich seine Sprache zurück.
»Was … hat er getan?«
»Steh auf, mach ein paar Schritte, dann wirst du es ja sehen«, sagte Max.
Tichon Ignatjewitsch stützte sich auf die Armlehnen seines Sessels, erhob sich mühsam und bewegte sich, das linke Bein nachziehend, in Richtung Tür.
»Du brauchst nicht zu
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