Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
mühsam beherrscht, »Denis ist mein Sohn.«
»Jetzt bist du an der Reihe, dich vorzustellen, Väterchen«, sagte Max ruhig.
Aus der gemächlich vorgetragenen Erzählung des Alten erfuhren unsere Helden, dass die Wilden, mit denen sie es zu tun hatten, einem kleinen Volk aus den Tälern angehörten. Die Talmenschen, wie der Alte sie nannte, waren vor drei Jahren in die Stadt gekommen, als einer ihrer Aufklärer am Stadtrand neun herrenlose Fässer entdeckt hatte: drei mit Heizöl und sechs mit Petroleum. Es war unklar, woher sie stammten, aber das Talvolk erkannte augenblicklich den Wert der Rohstoffe als Handelsware, mit der sich bestens wirtschaften ließ, solange ihr Vorrat reichte. Daher wurde beschlossen, sich in nächster Nähe zu den Fässern niederzulassen. Allerdings stellte sich sehr bald heraus, dass noch andere Anspruch auf den Vorrat erhoben. Nämlich jenes Volk, das in selbst gegrabenen Höhlen in den Hügeln nördlich der Stadt lebte; seine Angehörigen behaupteten, die Fässer früher als die Talmenschen entdeckt zu haben. Der einzige Grund, weshalb sie diese
nicht längst geborgen und zu sich gebracht hatten, bestand in ihrer augenblicklichen, geschwächten Situation: Sie hatten sich des Angriffs gewisser geflügelter Ungeheuer erwehren müssen, und während sie den Feind zurückschlugen und ihre Wunden leckten, hatte sich das Talvolk ihre Fässer angeeignet. Und nun herrschte seit zwei Jahren ein seltsamer Krieg: Sinnlose Kampfhandlungen wechselten sich mit Verhandlungsversuchen und kurzen, fragilen Friedensphasen ab, die wiederum in neue Zusammenstöße mündeten.
Der grauhaarige Alte hieß Tichon Ignatjewitsch und war vor eineinhalb Jahren zusammen mit seiner Tochter Anna in einer großen Karawane von St. Petersburg nach Moskau gekommen.
In St. Petersburg hatten sie an einer Metrostation an der Peripherie der Stadt gewohnt und dort mit alten Apparaturen gehandelt, die sie an der Oberfläche erbeuteten. Ihre kleine Gemeinschaft wurde von allen Seiten bedrängt. Schließlich hatten sie eine Unterkunft gefunden und sich eingerichtet, aber man ließ sie nicht in Ruhe. Ihre Station wurde von einer Horde Banditen besetzt, die jedermann nach dem Leben trachteten … Die Menschen wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten. In einem Kampf gegen die Aggressoren hätten sie keine Chance gehabt, sie waren einfach zu wenige. Daher beschloss ihr Vorsitzender, nach Moskau überzusiedeln. Die Schutzanzüge reichten für alle. Fast für alle. Sie suchten ihre Siebensachen zusammen und machten sich auf den Weg. Die Übrigen zerstreuten sich in alle Richtungen, versuchten nach St. Petersburg zu gelangen und waren vermutlich aufgefressen worden.
Tichon Ignatjewitsch und Anna erhielten jeder einen Strahlenschutzanzug.
»Und Annas Mutter?«, fragte Sergej.
»Die ist seit der Zeit der Katastrophe verschwunden«, entgegnete Tichon Ignatjewitsch.
Sie machten sich also nach Moskau auf. An einem der Rastplätze an einem Waldrand brach eine seltsame Seuche aus. Innerhalb einer einzigen Nacht bekamen die Menschen unter ihren Schutzanzügen und trotz ihrer Atemschutzmasken Geschwüre und Furunkel, aus denen der Eiter herauslief, und sie starben unter grauenvollem Geheul. Ihr Vorsitzender, den sie scherzhaft Moses nannten, zog daraus den Schluss, dass man sich in einem verseuchten Gebiet befand, und gab das Kommando zum Aufbruch. Aber die Menschen starben auch weiterhin. Die Seuche befiel nicht alle, ein Teil der Reisenden blieb unversehrt, aber die Wahl des Sensenmanns war nicht nachvollziehbar. Tichon und Anna blieben lange von der Krankheit verschont, und sie waren schon überzeugt, dass sie es nach Moskau schaffen würden. Aber sie hatten sich zu früh gefreut. Während sie auf dieses Städtchen zusteuerten und die Überlebenden der Karawane schon glaubten, dass sie die Seuche überwunden hatten, traten bei Anna plötzlich der ersten Symptome der Krankheit auf. Der zutiefst erschrockene Moses ließ Vater und Tochter in der Stadt zurück und drohte: Wenn ihr uns folgt, bringe ich euch um.
Sie waren mehr oder weniger zufällig hierhergeraten. Und sehr bald schon waren die Talmenschen auf sie gestoßen.
»Sie sind in Ordnung«, sagte Tichon Ignatjewitsch. »Nicht besonders aggressiv … Nur irgendwie stumpfsinnig. Sie
jagen die Wolfsratten und glauben, dass die Mäntel aus deren Haut sie vor feindlichen Kugeln und Pfeilen schützen und die Schädel ihnen Klugheit verleihen …« Er schmunzelte. »Bisher
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