Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
rechnen: Er musste alle seine Kräfte für die Reise nach Moskau aufsparen, sich darauf konzentrieren, die Metro zu erreichen und seinen Sohn gesund und lebendig dorthin zu bringen.
Wera bat ihn, ihr von den Versuchen zu berichten, die Wosnizyn an ihnen vorgenommen hatte, und Sergej begann zu erzählen: von den Symptomen und Qualen der Krankheit, davon, wie sie später in die Militärhochschule gelangt waren, von den Medikamenten, der Remissionsphase und der Geburt ihres Sohnes; von dem Leben unter der Erde und Polinas langsamem Verlöschen, von seiner Frau, der Liebe seines Lebens. Er konnte nicht mehr aufhören … Wera unterbrach ihn nicht.
»Mir wäre sehr daran gelegen, dass Sie in diesen zwei Tagen mit einigen unserer Frauen schlafen«, sage sie schließlich, »aber ich werde nicht darauf drängen und Sie auch nicht darum bitten.«
Sergej schüttelte ablehnend den Kopf. Es hatte keinen Sinn, die Natur zu täuschen: Er hatte keine Kraft. Und es
lohnte sich nicht, das Leben und die Gesundheit der Frauen aufs Spiel zu setzen. »Suchen Sie besser geeignete Frauen für Max aus. Der wird eine ausgezeichnete Nachkommenschaft zeugen. Richtige Wikinger.«
Die nächsten zwei Tage verbrachten Denis und Sergej im Gästehaus, ruhten sich ausgiebig aus und futterten sich Kraft an. Sie bekamen weder Max noch Angin zu Gesicht. Bei Max war das logisch, schließlich war seine Zeit begrenzt. Aber warum hatte Angin es so eilig? Offenbar hatte er sich ebenfalls vom Fleck weg in seine Aufgabe gestürzt.
Am Abend des zweiten Tages rief Wera Sergej zu sich.
Max war bereits zugegen und sah aus wie eine Katze, die mit Sahne durchgefüttert worden war. Das dümmliche Lächeln verschwand gar nicht mehr von seinem gesunden, rundlichen Gesicht. Als er Sergej erblickte, hob er entschuldigend die Arme, als wollte er sagen, dass er vor lauter Beschäftigung einfach keine Zeit für sie gefunden hatte.
»Schon gut.« Sergej winkte ab und musste sich plötzlich an einen alten Spruch erinnern: »Wenn der Doktor satt ist, geht es auch dem Kranken besser.«
Max’ Augen wurden kugelrund, und im nächsten Moment lachte er schallend los und klopfte sich auf die Knie.
»Morgen bei Sonnenaufgang brecht ihr auf«, sagte Wera trocken. »Ich gebe euch zwei Amazonen mit. Im Idealfall werden sie euch bis nach Moskau begleiten. An sich ist die Strecke nicht weit: Ihr müsst noch ein Stück über offenes Gelände, dann durch den Wald, dahinter beginnt schon der Stadtrand. Allerdings ist es keineswegs garantiert, dass ihr mit heiler Haut aus dem Wald herauskommt. Alles
Gute, Sergej. Sie sind ein Kämpfer. Ich bin sicher, Sie werden es rechtzeitig schaffen.«
Am nächsten Morgen wurden sie vom ganzen Dorf verabschiedet. Sergej und Max umarmten Angin. Ljonetschka wollte sie ebenfalls umarmen und murmelte tränenselig etwas vor sich hin, aber Max holte augenblicklich mit grimmigem Gesichtsausdruck zum Schlag aus. Denis nahm sein Amulett – den Fangzahn des Pterodaktylus – ab und hängte es Onkel Angin um. Wahrscheinlich, so dachte Sergej, war das hier tatsächlich Angins Aufgabe, auch wenn es auf den ersten Blick albern aussah. Er war den ganzen Weg mit ihnen gegangen, um hier seine Mission zu finden: den Frauen zu helfen und sie – vorerst als Einziger – zu schützen. Verdammte, verdrehte Welt.
Ihre beiden Begleiterinnen – zwei stämmige junge Frauen – waren warm und gleichzeitig bequem für den langen Weg ausgerüstet. Jede trug einen schweren, fast mannshohen Bogen mit sich und auf dem Rücken einen großen Köcher mit einem Vorrat an Pfeilen.
Max nahm Angins Gewehr an sich und hängte es sich über die Schulter. Sergej hatte wieder Grischas Pistole in seinen Gürtel gesteckt, aus der er bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein einziges Mal geschossen hatte.
Es war ein trüber, aber windstiller Tag. Die Amazonen pflügten wie zwei kleine Panzer vorneweg durch den Schnee. Denis blickte sich mehrere Male um und winkte.
Wie sich herausstellte, war es ziemlich weit bis zum Wald. Die Wanderer bewegten sich schräg darauf zu. Dabei kürzten sie den Weg ein Stück ab, indem sie sich rechts von den Masten hielten. Zunächst waren es noch Masten mit Häusern
darauf – die letzten Ausläufer des Dorfes –, dann kamen solche ohne Häuser, von denen Kabelenden herabhingen. Auf den leeren Masten und auf einigen noch erhaltenen Kabelsträngen saßen größere und kleinere Angler, kreisten über ihnen am Himmel wie gigantische Krähen, aber den Menschen
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