Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
näherten sie sich nicht, sondern hielten vorsichtig Abstand.
Endlich kamen die ersten Bäume in Reichweite. Die jungen Frauen blickten sich nach allen Seiten um. Eine holte einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn an den Bogen an. Sergej stieß Max beim Gehen in die Seite und nickte zu den beiden Führerinnen hinüber. Was taten sie da? Der zuckte nur mit den Schultern, fasste sein Gewehr jedoch fester.
Sergej wandte sich um. Hinter ihnen erstreckte sich der tief verschneite grenzenlose Raum mit den kleinen schwarzen Flecken, jenen Strommasten mit dem wundersamen Dorf über der Erde. Am Himmel bewegten sich wie ein Mückenschwarm kleine Punkte hin und her, jene fliegenden Echsen, die der Inbegriff eines jeden Alptraums waren. Die Welt ist doch wirklich merkwürdig, vielschichtig und unermesslich, dachte Sergej. Und dabei hatte er in seinen über vierzig Jahren nur einen winzigen Teil davon zu sehen bekommen.
Der Wald sah unendlich und tot aus. Keine Geräusche, nur das Knirschen des Schnees unter den Füßen der Gefährten. Sergej fühlte einen ungewohnten Energieschub, als er daran dachte, dass der Wald das letzte Hindernis auf ihrem Weg nach Moskau war, zur Metro, zu seiner Rettung … Er wollte leben und mitansehen, wie sein Sohn groß wurde.
Mehrmals drehten sich die beiden Amazonen zu ihnen um und bedeuteten ihnen mit Zeichen: Achtung! Höchste Aufmerksamkeit! Aber Sergej kam ihren Aufforderungen nur halbherzig nach. All seine Gedanken waren schon dort, am Ende des Weges, in der warmen, unterirdischen Metro, im marmornen Paradies …
Du darfst dich nie entspannen, denn der Mikrokosmos um dich herum spürt das augenblicklich und wird dermaßen über dich herfallen, dass dir das Lachen gleich wieder vergeht – so lautete Max’ Credo, das Sergej in diesen Augenblick komplett vernachlässigte.
Sie gingen und gingen und gingen, und schließlich wurde ihnen klar, dass sie den Wald nicht vor Einbruch der Dunkelheit durchquert haben würden. Es begann zu dämmern. Mit einem Mal wurde der finstere, tote Wald lebendig. Sergej verpasste sogar den Augenblick, als die Amazonen anfingen, sich nach allen Seiten umzudrehen und einen Pfeil nach dem andern in die Höhe und in alle Himmelsrichtungen auszusenden. Max drückte Denis’ Kopf nach unten und stieß Sergej zur Seite, brüllte wütend los und begann ebenfalls einzelne Schüsse auf die Baumwipfel abzufeuern, während Sergej den Kopf in den Nacken legte und sich umsah. Fassungslos beobachtete er, wie sich die Bäume mit Leben füllten, sich seltsame Wesen von den Bäumen herabließen, die entweder Speere oder Messer in den Pranken hielten und von Zeit zu Zeit unvorstellbare Saltos und Sprünge entlang der Baumstämme oder von einem Ast zum anderen vollführten, um schließlich auf halbem Weg von einer Kugel oder einem Pfeil niedergestreckt zu werden.
Die fünf Menschen begannen zu laufen, brachen in den Schnee ein, der ihnen an manchen Stellen bis zur Hüfte reichte, schossen im Lauf, während gleichzeitig von oben ein Hagel aus kurzen Speeren auf sie herabprasselte. Die Bäume lebten, sie schwankten hin und her unter dem Gewicht schrecklicher Zwerge, die sich geschickt auf ihnen bewegten, ihrer Beute folgten und sie allmählich von allen Seiten einkreisten. Sergej ergriff Panik. Er verstand genau: Sie waren in höchster Gefahr.
Dies war ein echter Feind. Er war schlau, feige, vermochte zu denken, wusste Fallen aufzustellen … Eine der Amazonen krümmte sich plötzlich und stürzte kopfüber zu Boden – ein meisterhafter Schuss aus einer Steinschleuder hatte sie von den Beinen geholt. Noch ehe sie wieder aufstehen konnte, wurde sie von Dutzenden von Wurfspießen durchbohrt und lag da wie ein toter Igel. Die zweite Amazone stieß einen tierischen Schrei aus, stand mit weit auseinandergestellten Beinen da und schickte einen Pfeil nach dem andern auf die Wilden … Auch sie traf ein Stein aus einer Steinschleuder, direkt auf die Nasenwurzel, und tötete sie augenblicklich.
Max feuerte ununterbrochen auf die Bäume, ohne noch einen Gedanken an den Patronenverbrauch zu verschwenden, denn jetzt landeten die seltsamen Wesen, hässliche Pygmäen, ringsum auf dem Boden. Er schrie Sergej mit fremder Stimme zu: »Lauft! Lauft!«
Sergej nahm all seine Kraft zusammen, packte seinen Sohn unterm Arm und stürzte los, durch die Schneewehen, suchte den einfachsten Weg … Und dann erwischte ihn etwas Spitzes, drang durch das feste Material des Strahlenschutzanzuges
und
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