Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
stehen – und drehte sich um.
Natürlich. Ljudmila war älter geworden, der Blick ihrer großen, fröhlich strahlenden Augen matter. Das Gesicht
war von Falten durchzogen, die Grübchen auf den Wangen waren nicht mehr so neckisch wie vor zweiundzwanzig Jahren. Über der Schläfe hing eine graue Strähne ehemals brauner Haare. Sie war etwas fülliger als früher. Und trotzdem erfasste Sergej eine solch rückhaltlose Zärtlichkeit für diese Frau, dass er selbst erschrak.
Er blickte nur stumm in die dunkelgrünen Augen und brachte kein Wort hervor. Seine gesamte Umgebung, die Menschen, alles verschwand aus seiner Wahrnehmung. Während sie auf ihn zuging, sauber und schlicht gekleidet, horchte er mit Verwunderung und Neugier in sich hinein: So war das also. Die erste, heftige Jugendliebe zu verlieren und sie nach Jahrzehnten zufällig wieder zu treffen … Wie sollte er das verstehen? Dass er sie nie aus seinem Herzen entlassen hatte? Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Natürlich hatte er sie entlassen.
Was war mit Polina?
Sergej schüttelte den Kopf. Was für ein schmieriges Melodram …
Ljuda musterte ihn von oben bis unten.
»Das gibt es doch nicht … Heute Nacht habe ich von dir geträumt. So wie du früher warst …«
Er lächelte. Er wollte ihr sagen, dass er noch viele Jahre nach ihrer Trennung von ihr geträumt hatte, weil er an sie gedacht hatte. Er hatte das Gefühl, einiges über sie zu wissen. Zum Beispiel, dass sie erst eine Tochter zur Welt gebracht hatte und dann einen Sohn, der Ljudmilas Vater unglaublich ähnlich sah. Er wusste es eben. Er hatte es im Traum gesehen und war sich vollkommen sicher, dass es der Wirklichkeit entsprach.
Mit den Jahren hatte diese merkwürdige Verbundenheit nachgelassen … fast völlig.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich bin zufällig hergekommen«, antwortete er. »Und du?«
»Ich lebe hier seit der Katastrophe. Ich bin Witwe.«
Mit zwei Kindern, hätte Sergej um ein Haar hinzugefügt.
»Wie geht es …«, der alten Hexe, wollte er schon fragen, aber dann beherrschte er sich und sagte: »… deiner Mutter? «
»Sie ist letztes Jahr von uns gegangen. Wir haben noch ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert.«
»Gute Menschen leben lange«, sagte Sergej und verzog dabei das Gesicht, als hätte er etwas Saures gegessen.
Plötzlich hatte sie es eilig.
»Ich komme gerade von der Arbeit. Schau doch mal vorbei. Ich wohne gleich da drüben.« Ljudmila zeigte mit der Hand auf eines der Zelte und klapperte mit den Wimpern, die früher so lang und dicht gewesen waren wie bei Burjonka Ref. 29 , der Kuh aus der Puppentrickserie, die Sergej als Kind regelmäßig angeschaut hatte. »Es war schön, dich zu sehen.«
Dann ging sie schnell davon.
Sergej sah ihr hinterher, ohne seine Gefühle zu begreifen: Wollte er ihr folgen? Wollte er sie nie mehr sehen? Wenn doch im Leben immer alles so einfach wäre …
»Papa!« Sein Sohn zupfte an seinem Ärmel. Erst jetzt merkte Sergej, dass Ljudmila nicht nach Denis gefragt hatte. »Diese Tante … Sie braucht dich nicht. «
Das stimmt, dachte Sergej, sie braucht mich nicht. Und wieder einmal wunderte er sich nicht darüber, dass sein
Sohn die Situation so erwachsen und präzise einzuschätzen wusste.
Er seufzte tief.
»Wohin geht’s?«, fragte er ihren Führer.
Das Schicksal hatte alles an den richtigen Platz gerückt. Seine erste und einzige Jugendliebe, die junge Frau, von der er jahrelang immer wieder geträumt hatte und deren Anblick ihn noch zwanzig Jahre später erschüttert hatte, als sie auf einmal als Mutter zweier Kinder und Witwe, bar jeden Glanzes, vor ihm stand – diese Frau war ihm fremd. So wie er ihr fremd war. Es war sinnlos, nach den Ursachen dieser Entfremdung zu forschen. Das Alter, die Jahre der Trennung … Und es war richtig so, genau so musste es sein. Schade nur, dass sie sich hier getroffen hatten. Es wäre noch besser gewesen, wenn er sie einfach als Märchenprinzessin in Erinnerung behalten hätte, als vollkommen, als Bestandteil der glücklichen alten Welt …
Sergej litt nicht. Er wälzte sich ein wenig hin und her, während er versuchte, auf seiner Matratze im Zelt einzuschlafen, aber seine Gedanken kreisten hauptsächlich um Wosnizyn und dessen Wundermedikament. Das Ziel war nah. Was Ljudmila anging, so wollte Sergej sie nicht mehr sehen.
Am nächsten Morgen wachte er ziemlich spät auf. Weder Max noch Denis befanden sich im Zelt. Schnell zog er sich an und warf einen Blick
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