Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
versuchte die Brüche und Unglaubwürdigkeiten, die ihre Geschichte dadurch erhielt, so gut es ging zu kaschieren. Während er sprach, warf er immer wieder kurze Blicke zu Denis hinüber, der bewegungslos dasaß und auf einen einzigen Punkt starrte.
Nachdem Sergej verstummt war, benötigte Michejew eine Weile, um das Gehörte zu verdauen. Dann sagte er: »Nehmen wir mal an, das stimmt …«
»Was heißt da, nehmen wir mal an?!« Max war sofort auf hundertachtzig. »Borja, hast du über deiner Schreibtischarbeit jeden Instinkt verloren?! Du siehst doch, dass ich mit ihnen unterwegs bin. Ich bürge für sie!«
Michejew blickte ihn ausdruckslos an.
»In unserem Leben«, entgegnete er, »kann niemand für irgendwen bürgen. Und an so eine Bürgschaft zu glauben ist erst recht ein Ding der Unmöglichkeit. Sergej Dmitrijewitsch, warum sind Sie hierhergekommen?«
Der Moment der Wahrheit, dachte Sergej. Sollte er über Wosnizyn sprechen oder nicht? Aber was konnte schon passieren?
»Ich suche meinen ehemaligen wissenschaftlichen Leiter Eduard Wosnizyn«, sagte Sergej fest und blickte Michejew in die Augen. »Ich habe zufällig herausgefunden, dass er hier arbeitet …«
»Was wollen Sie von Wosnizyn?« Michejews Gesicht wirkte auf einmal blasser als zuvor, und seine Frage kam wie aus der Pistole geschossen.
Sergej schwieg, überlegte, wie viel er erklären sollte.
»Vor vielen Jahren, vor der Katastrophe, führte Wosnizyn als damaliger Leiter eines Labors in Jaschkino gewisse Tests durch. An seinen Mitarbeitern. Zu der Zeit bereitete man sich schon ernsthaft auf einen Krieg vor und forschte daher verstärkt nach Möglichkeiten, radioaktiver Verstrahlung entgegenzuwirken und ihre Folgen zu heilen … Die Mitarbeiter, die sich den Tests unterzogen, waren Denis’ Mutter Polina – meine Frau – und ich. Wir sollten Gegenmedikamente ausprobieren. Die Präparate waren noch im Prüfstadium und ihr Vorrat begrenzt. Als es dann losging, waren wir bereits verstrahlt. Eduard Georgijewitsch brachte uns im Bunker der Militärhochschule unter und hinterließ einen kleinen Vorrat an Medikamenten. Polina und ich nahmen sie ein, und für eine gewisse Zeit ging es uns gut.
Aber der Vorrat war irgendwann erschöpft, und Wosnizyn ließ nichts von sich hören. Meine Frau ist vor kurzem«, Sergejs Stimme zitterte, »gestorben«.
»Und jetzt sterben Sie«, stellte Michejew schonungslos fest.
»Ja«, sagte Sergej. »Ich hoffe, dass Wosnizyn mir helfen kann. Es geht mir jeden Tag schlechter, und ich habe Angst, dass mein Sohn allein zurückbleibt.«
»Alles klar.« Michejew blickte zu Batrak hinüber, der neben ihm saß. »Was meinst du, Ilja, sprechen diese Täubchen hier die Wahrheit?« Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Gestern Abend wurde im Tunnel zwischen Perowo und Nowogirejewo ein gewisser Pawel Litjagin umgebracht. Er war Wosnizyns Assistent. Sie, Sergej, werden ihn kaum kennen. Der Mann begann erst hier in der Metro für Wosnizyn zu arbeiten. Litjagin und ein weiterer Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes, dem Wosnizyn vorsteht, wurden auf sehr ungewöhnliche Weise getötet, sie wurden von Pfeilen durchbohrt. Die Medikamente, die sie zur Nowogirejewo transportieren sollten, verschwanden. Aber das ist noch nicht alles. Heute Morgen haben wir erfahren, dass Eduard Georgijewitsch verschwunden ist.«
2
Die Welt verschwamm vor Sergejs Augen. Er fühlte einen scharfen Schmerz in der Brust, als ob ihm jemand einen glühenden Stock ins Herz getrieben hätte. An dieser Stelle endete das Märchen also … Seine letzte Hoffnung hatte sich verflüchtigt. Sie hatten so viele Gefahren bestanden, den ganzen Weg auf sich genommen – und wozu das alles? Um herauszufinden, dass auch hier auf dieser, wenn man Michejew glauben durfte, durch und durch gesitteten Metro-Linie Menschen einfach umgebracht wurden. Was hatte der Sicherheitschef gesagt? Mit Pfeilen? Warum zum Teufel mit Pfeilen? Hier gab es doch überall Schusswaffen … Genau in dem Moment, als sie ihr Ziel schon fast vor Augen hatten, war Wosnizyn verschwunden. Wie absichtlich.
Sergej begann in sich zusammenzusinken und rutschte zur Seite. Die erregten Stimmen der Leute um ihn herum klangen auf einmal seltsam verzerrt und schienen wie durch eine dicke Watteschicht an sein Ohr zu dringen. Dann verschwanden sie auf einmal völlig – so wie die ganze Welt um ihn.
Sergej sah Polina. Sie war jung und trug ein leichtes, cremefarbenes Sommerkleid. Sie lief durch das
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