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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Merkposten, wenn er den Weg zurück allein suchen würde. Den Gewürzhändler, den Gerber. Jils Angestellter redete wie ein Wasserfall. Er, Brahim, sei ein Gwana und ob Jacques nicht eines Nachts mitkommen wolle zu einer Zeremonie, bei der die Gwana den Messertanz aufführten und den Djinn mit Trommeln rufen? Was ein Gwana sei? Das sind die Abkommen alter Sklaven aus Schwarzafrika.
    Als sie aus dem Gewirr des Souk plötzlich auf dem Platz Djemaa el Fna traten, drückte Jacques Brahim fünf Euro in die Hand, bedankte sich und war froh, ihn losgeworden zu sein. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit zu vertrödeln bis zu dem Treffen mit Ibrahim Rossi, versuchte dem wilden Treiben auszuweichen und glaubte sich ins Mittelalter zurückversetzt, als eine Kamelkarawane an ihm vorbeizog. Von einem fliegenden Händler ließ er sich einen Tee eingießen, den er stehend trank.
    Die Adresse, die Martine ihm aufgeschrieben hatte, lag nur wenige Hundert Meter vom modernen Bahnhof entfernt auf der anderen Seite der gewaltigen, bald zehn Meter hohen Stadtmauer aus ockerfarbigem Lehm. Zwölftes Jahrhundert, hatte ihm Brahim gesagt.
    Jacques war um zehn Uhr verabredet. Doch als er sich am Empfang des sich über mehrere Etagen eines neuen Gebäudes erstreckenden Ingenieurbüros meldete, sagte die freundliche Dame, Monsieur Rossi werde erst am Nachmittag erwartet. Er habe einen Termin auswärts.
    Jacques musste seinen Zorn unterdrücken.
    Er hatte unerwartet Zeit. Das war er nicht gewohnt, und er wurde nervös. Dann dachte er daran, dass er während seiner Studienzeit einen Aufsatz von einem ihm bis dahin unbekannten Siegfried Kracauer gelesen hatte, in dem der sich dafür aussprach, man solle nicht der Hektik hinterherjagen, sondern zu Hause die Vorhänge zuziehen und sich langweilen. Aus der Langeweile entstünde die größte Kreativität.
    Das hatte Kracauer zwar zu Zeiten der Erfindung des Kinos und des Radios geschrieben. Aber im Web-Mail-Facebook-Twitter-Zeitalter hätte er noch mehr recht.
    Also setzte Jacques sich auf eine Bank im neuen Bahnhof und tat nichts.
    Er bewunderte die großzügige Architektur, die Sauberkeit und die freundlichen Menschen. Das war hier ganz anders als auf einem Pariser Bahnhof, der vielleicht im 19 . Jahrhundert modern gewesen war, heute aber verrußt und dreckig wirkte und wo die Passagiere aggressiv, gehetzt und häufig unfreundlich waren.
    Langweile ich mich eben, sagte er sich und wanderte um einige Jahrhunderte zurück auf den großen Platz Djeemaa el Fna und setzte sich ins »Alhambra« schräg gegenüber vom Café »France«.
    Aber Jacques konnte die Langeweile nicht lang ertragen. Er rief Jil an.
    Sie lachte, als sie hörte, er sei versetzt worden. Das sei halt so in Marokko. Er solle im »Alhambra« auf sie warten, sagte sie.
    Gegen zwölf holte sie ihn ab und führte ihn durch enge Treppen auf die Dachterrasse eines kleinen Restaurants mit zwölf Tischen und einem weiten Blick über die flachen Dächer der Altstadt.
    Jil erzählte von der Jagd nach Drogenkurieren. Und davon, dass Marrakesch leider Thailand als Ort des Sextourismus abgelöst habe. Immer mehr Männer kämen, die sich für kleine Jungs oder Mädchen interessierten. Und zu viele Eltern sahen darin die Chance, leicht an Geld zu kommen. Erst vorgestern habe sie einen Hotelgast rausgeschmissen, weil er mit einem zehnjährigen Jungen auf sein Zimmer gehen wollte.
    Nach dem Essen, bei dem sie eine halbe Flasche Rosé getrunken hatten, sagte Jil: »Wir gehen in den ›Riad‹. Es ist Zeit für eine Siesta. Du kannst vor vier oder gar halb fünf ohnehin nichts mehr anfangen. Hat man dir gesagt, wann Ibrahim kommt?«
    »Nein. Am Nachmittag. Was immer das bedeutet.«
    »Um fünf!«
    Im Patio des »Riad« bot Jil ihm noch einen Kaffee an und brachte ihn dann zu seinem Zimmer. Zum Abschied gab sie ihm einen Wangenkuss. Er wollte sie an sich ziehen, legte eine Hand um ihre Hüfte und spürte eine Pistole.
    »Trägst du die immer?«, fragte er.
    Jil lachte, griff hinter sich und zog die flache Waffe hervor. »Ja, die trage ich immer. Und die hat mich auch schon vor so mancher Überraschung bewahrt. Und du?«
    Jacques lachte. »Ich bin Richter!«
    »Hätte ja sein können.«
    Jacques zog sie an sich und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Sie ließ es geschehen, streckte sich und lief schnell den Gang hinab.
    »Sag Bescheid, wenn du gehst. Entweder Brahim oder ich bringen dich hin.« In seinem großen Zimmer holte Jacques sein Smartphone hervor und

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