Das Mars-Labyrinth: Roman (German Edition)
Viennes Meinung über mich für immer verändert.
Ich ziehe den Vorhang zu und gehe am Bett der Dame vorüber, atme tief durch, um das Bild von Viennes Gesicht aus meinem Bewusstsein zu vertreiben. Ich rieche noch immer die Seife in ihrem Haar, höre ihre Stimme so klar und deutlich, als stünde sie direkt neben mir und würde meinen Namen flüstern. Der Atem verfängt sich schmerzhaft in meiner Lunge. Es fühlt sich an, als hätte ich etwas geschluckt, das unterwegs stecken geblieben ist. Es tut weh, und ich spüre, wie ich innerlich zusammenzucke. Dann sage ich mir, lass sie los. Ich sage mir, dass nie etwas zwischen uns beiden passieren wird. Und doch ist da diese leise Stimme, diese leise Hoffnung ...
»Armes kleines Hirn«, sagt Mimi.
»Spar dir das«, herrsche ich sie an. »Ich bin nicht in der Stimmung.«
»In welcher dann?«, kontert sie spöttisch. »Meine Sensoren sagen etwas anderes.«
Ich gebe ein Schnauben von mir. »Kannst du mich nicht einfach in meinem Selbstmitleid baden lassen?«
»Klar«, sagt sie. »Aber erwarte nicht von mir, dass ich dir dabei zuschaue.«
»Okay, Frau Schlaumeier. Überprüfe den Biorhythmus jedes Regulators und Minenbewohners. Gib mir Bescheid, falls sich irgendwer irgendwo außer Reichweite begibt.«
»Jawohl, Cowboy«, sagt Mimi. »Sonst noch was?«
»Negativ«, sage ich. »Der Tag war lang, also werden wir anderen ein bisschen schlafen, solange du Wache hältst.«
»Du auch?«
»Ich auch. Ich hoffe nur, es ist noch etwas übrig, das wir verteidigen können, wenn ich aufwache.«
Aber als ich die Krankenstation verlasse, wartet Maeve bereits auf der Arkade auf mich. Sie lehnt am Geländer und schaut den Kindern zu, die mit Jenkins Himmel und Hölle spielen.
»Siebzehn«, sagt sie zu mir.
»Siebzehn was?« Im Augenblick ist mir das schlicht zu viel.
»So viele Kinder haben die Dræu uns gestohlen. Eines davon war Áines kleine Schwester.«
»Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es so viele waren.«
»Es gibt viele Dinge, die du nicht über uns weißt, Durango.« Sie wendet sich ab, und ihr Kittel gleitet von ihrer Schulter und löst dabei einen Verband ab, unter dem eine dicke, purpurne Masse zum Vorschein kommt.
Wundmale wie dieses habe ich früher schon gesehen. Auf dem Schlachtfeld. In meinem Gesicht. An Viennes Rücken.
»Das ist ein Keloid«, sage ich. »Diese Wunde ist frisch. Sie war zuvor nicht da. Ich war auf dem Schlachtfeld an dem Tag, an dem die Orthokraten ihre Bergbausandflöhe auf uns losgelassen haben. Sie haben fast alles und jeden auf ihrem Weg vernichtet, und die, die sie nicht getötet haben, blieben mit Keloiden zurück, die genauso aussehen wie dieses Wundmal. Und jetzt habe ich eine Frage an dich, Maeve: Wo ist er?«
Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie gar nicht erst versucht, mich zu belügen. Aber sie antwortet auch nicht. Sie nagt lediglich an ihrer rissigen Unterlippe. Denkt nach.
»Ihr habt einen Sandfloh«, sage ich. »Zeig ihn mir. Wir haben nicht mal mehr einen Tag, ehe die Dræu zurückkommen, und ich muss mir ein Bild von unserer Lage machen.«
Maeve starrt mir bohrend in die Augen. Es ist, als könnte sie Mimi sehen. »Sag mir, Regulator, wie ermisst du Unendlichkeit?«
***
Unendlichkeit lässt sich, wie es scheint, ermessen, indem man einen Geheimgang beschreitet, der vom Kreuz über eine Treppe durch eine alte Luftschleuse und in einen uralten Kanalisationsgang auf einer tieferen Ebene führt. Mir scheint, ich bringe neuerdings viel Zeit in Abwassersystemen zu. Tief geduckt folgen wir dem Tunnel ein paar Hundert Meter weit. Der Weg führt steil bergab, ehe er scharf nach links abknickt und ich ein Licht vor uns sehe. Maeve bleibt am Ende des Tunnels stehen. Hinter ihr sehe ich den kahlen Fels der Schlucht und über uns die Unterseite der Zhao-Zhou-Brücke. Als ich nach unten schaue, sehe ich nichts außer unendlicher Finsternis.
»Da geht es ziemlich weit runter«, sage ich und halte mindestens zwei Meter Abstand von der Kante. Mein Mund wird trocken, mein Puls geht schneller, mein Atem wird flacher.
»Atme!«, sagt Mimi und versetzt mir routiniert einen elektrischen Schlag in den Hintern.
»Jou!«, kreische ich unwillkürlich.
»Bemerkenswerte Aussicht, nicht wahr?«, entgegnet Maeve in dem Glauben, ich hätte einen Kommentar zu der Szenerie abgegeben. »Bereit?«
»Bereit wofür?«
»Für den nächsten Tunnel. Er ist ungefähr fünfzig Meter unter dem hier.« Sie hebt ein Kletterseil auf, das am Boden
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