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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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LDR. Sie denkt an die Phase nach den letzten Weihnachten, als er selbst im Bett den iPod nicht ablegen konnte, sich zwischendurch mit einer seiner Stimmen darüber unterhielt, ob es nicht der einzig wahre Tod sein müsse, sich in einer Raumkapsel ins All schießen zu lassen und ganz allein zum Jupiter zu fliegen, zum Uranus und darüber hinaus, und ihr trotzdem eine Sicherheit gab, wie sie sie davor kaum jemals gehabt hatte. Als er auch an der Abzweigung zur Hohenwarthöhle nicht steht, nimmt die Kälte im Nacken schlagartig zu. Sie dreht den Kopf heftig hin und her, wird sie aber nicht los.
    Jeder Atemzug brennt in ihrer Brust. Schneller kann sie nicht. Die alte Geschichte. Er ist hinter ihr her. Er wird sie erwischen. Er hat sie immer noch erwischt. Sie wird stolpern und hinfallen. Er wird riesenhaft aufragen und lachen, ein wenig dreckig und ein wenig peinlich berührt. Dann wird er sich runterbeugen und den Arm heben.
    Plötzlich streift sie etwas am Ellbogen. Sie fährt herum und stolpert. Er tut zwei schnelle Schritte hinter dem Holunderstrauch hervor und fängt sie auf. Jetzt schreit sie laut. Er strahlt sie an. Sie schlägt wild auf ihn ein.
     

Zehn
    Manchmal hatte er den Verdacht, dass sie nur so tat, als würde sie frieren. So etwas machte man, um im anderen ein Schuldgefühl zu erzeugen. Sie saß in einem ihrer übergroßen Rollkragenpullis da, zusätzlich in eine Decke gehüllt, und bibberte. Dabei schaute sie angestrengt neutral in die Welt. Ab und zu holte sie sich in diesen Situationen auch noch Handschuhe, und wenn er darauf sagte, es falle ihm ohne hysterische Inszenierung leichter, ihr zu glauben, antwortete sie, sie könne sich Frostbeulen an den Fingern beruflich nicht leisten. Er lachte dann und sie wurde wütend.
    »Jaja, Mister Eskimo«, sagte sie und löffelte ihr Ei. »Es hat sechzehn Grad plus«, sagte er, »das erträgt kein Eskimo.« Vierzehn Grad waren die Grenze. Ab vierzehn Grad frühstückte er im Freien, wenn es sein Stundenplan erlaubte. An jenen Mittwochen, an denen am Nachmittag die Kinderschutzgruppe stattfand, ließ er sich am Morgen überhaupt Zeit und ging eine Stunde später aus dem Haus. Er deckte den Tisch auf der Terrasse hinter dem Haus, kochte weiche Eier oder Rührei mit Tomate und freute sich auf ihre Gesellschaft. Meistens kam sie von selbst, mit frischen Wangen und glühenden Ohren, ein Notenblatt in der Hand. Ab und zu ging er auf Zehenspitzen in den zum Musikzimmer umgebauten ehemaligen Kuh- und Pferdestall, um ihr zuzuhören, bevor sie frühstückten. Diesmal hatte er das nicht getan. »Was hast du gespielt?«, fragte er. »Opus fünf, Nummer eins«, sagte sie, »das wärmt.« »Ah ja. Opus fünf, Nummer eins.« Er hasste es, wenn sie ihn prüfte. »Beethoven, mein Lieber. Der Herr Psychiater beschäftigt sich zu wenig mit Musik«, sagte sie. Er nahm das Ei in die Linke, rollte es in der Handfläche um die Längsachse und ließ das Messer niedersausen. Vorsichtig hob er die Kappe ab. An der Schale klebte eine winzige weiß-braune Feder. Ich beschäftige mich mit den meisten Dingen zu wenig, dachte er, mit Musik, mit Büchern, mit meinem Haus, mit meiner Frau. Wahrscheinlich wurde man Psychiater, um sich die Illusion der Beschäftigung mit allem zu erhalten, und in Wahrheit beschäftigte man sich mit gar nichts. Er streute Schnittlauch aufs Ei und mischte ihn mit dem Löffel unter den Dotter. »Warum sagst du nichts?«, fragte Irene Horn. »Ich beschäftige mich gerade mit der ganzen Welt«, antwortete er. Sie lachte kurz. Er meine damit wohl die Frage nach dem perfekten Ei. Nein, er meine die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Betäubung und Selbstverletzung, sagte er, er meine junge Männer, die vergeblich versuchten, sich an die Decke zu hängen, und Mütter, denen das vollkommen egal sei, Hauptsache, sie hätten selbst ihre Bühne. Sie blickte ihn direkt an. »Was hast du momentan gegen mich?«, fragte sie. »Nichts«, sagte Horn, er denke einfach zu viel an Tenöre.
    Mit Tobias hatten sie nicht gerechnet. Er stand plötzlich da, stützte sich mit einer Hand auf die Tischplatte, wies mit der anderen auf seinen Vater und sagte: »Du musst etwas tun.« Horn registrierte, dass er unfrisiert war, keine Socken trug und blass aussah. »Bist du krank oder was?«, fragte er.
    »Nein. Aber du bist doch ein Kopfdoktor, oder?«
    »Wenn du nicht krank bist, solltest du schätzungsweise seit einer halben Stunde in der Schule sein.« Horn merkte, wie er zornig

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