Das Matrazenhaus
Vorstellung eines schwarzen Mannes, der riesenhaft dasteht und auf jemanden einprügelt. Sie will das nicht, hundertprozentig nicht, das weiß sie.
Sie geht die Wand entlang nach hinten. An die Tür des Schrankes mit dem Bastelzeug hat jemand eine Diddel-Maus und eine Henne mit drei Küken geklebt. Unmittelbar davor sind die Plätze von Julia und Sophie. Beide lieben Sticker. Das Wissen um solche Dinge gibt ihr Sicherheit. Sie stellt sich ans Fenster und blickt in den Hof hinaus. Es regnet in feinen Fäden, obwohl der Himmel vorwiegend blau ist und auf dem Dach des Bibliothekstraktes die Sonne liegt. Sie kramt in ihrer Handtasche, holt die Feile hervor und beginnt ihre Fingernägel zu bearbeiten. Wenn sie auf jemanden wartet, tut sie das immer, manchmal auch, wenn sie im Auto mitfährt. Es gibt Leute, die stört so etwas.
Als Erste erscheint Elke Bayer und überquert die weiße Kiesfläche schräg nach links in Richtung Parkplatz. Sie trägt anthrazitfarbene Pumps, ein hellgraues Kostüm und eine dunkelrote Samtschleife in ihrem blonden Haar. Sie läuft beinahe. Dass sie überhaupt da war, ist bemerkenswert. Sie kommt sonst nie zu außerordentlichen Terminen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie die Klassenlehrerin der anderen ersten Klasse ist und fürchtet, die Sache könne sie demnächst auch betreffen. Gegen die Anordnung des Direktors, die Vorfälle mit den Kindern zu besprechen, hat sie sich erst gewehrt. Dann ist klargeworden, dass Michael Richter aus ihrer Klasse schon seit zwei Tagen herumerzählt, er werde der schwarzen Glocke den Taser seines Vaters gegen den Bauch halten, bis sie einen elektrischen Anfall bekomme. Damit war ihr Argument Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß vom Tisch. Über den elektrischen Anfall haben alle gelacht, obwohl sie Michaels Vater mit seinem Waffenpass, seiner Stahlrutensammlung und seinen nachgestellten Schlachten aus dem Zweiten Weltkrieg nur allzu gut kennen.
Trude Lassnig und Veronika Derkic kommen gemeinsam heraus, die eine Integrationslehrerin, die andere Klassenlehrerin der Vier B. Sie wohnen beide in Sankt Christoph und bilden eine Fahrgemeinschaft. Danach kommen Reinhard Gelich, Klassenlehrer der Zwei A, und Dienbacher, der Direktor. Dienbacher gestikuliert wild und wirkt immer noch nervös. Gelich hat von Anfang an so getan, als gehe ihn das Ganze nichts an: In meiner Klasse ist noch nie jemand geschlagen worden. Er ist ein Beispiel dafür, dass auch Arschlöcher Volksschullehrer werden. Hauptsache, er fährt eine Corvette. Mit seinen Lieblingskindern dreht er manchmal eine Runde, die anderen dürfen zuschauen.
Als aus der anderen Richtung Bauer dahertrabt, in seiner grauen Baumwollgarnitur und den neuen grünen Laufschuhen, wirft sie die Nagelfeile in die Tasche zurück. Früher hatte sie im Maniküretui ein Stanley-Messer mit einem gelben Griff stecken. Seit einiger Zeit braucht sie es nicht mehr.
Bauer wartet in der Garderobe. Er tupft ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Wo warst du?«, fragt er. »In der Klasse«, sagt sie und öffnet ihren Spind.
»Das heißt, du hast mit den Kindern gesprochen?«, sagt er und lacht.
»Gewissermaßen«, sagt sie.
Während sie sich umzieht, läuft er Runden im Raum. Er hört dabei Musik vom iPod, wie immer. Nach einer Weile hält sie ihn auf, obwohl sie nichts trägt außer den BH und über dem linken Bein die Jogginghose, und zieht ihm die Stöpsel aus den Ohren. »Das macht mich verrückt«, sagt sie. »Super«, sagt er.
»Wie hast du die Besprechung gefunden?«
»Unnötig«, sagt er, läuft im Stand weiter und summt.
When you are near / It’s just as plain as it can be / I’m wild about you, gal / You ought to be a fool about me. Sie kann den Text inzwischen auswendig. Der Zipp ihres Sweaters klemmt. Er merkt es, tritt an sie heran, löst ihn, indem er vorsichtig hin und her ruckelt, und drückt ihr dabei einen Kuss auf die Lippen. »Warum lachst du?«, fragt er.
»Mir ist etwas eingefallen.«
»Und was?«
»Ein Satz.«
»Welcher Satz.«
»Ich habe ihn heute an die Tafel geschrieben. Der Mond wird von der Sonne zum Leuchten gebracht.«
Sie laufen seine Standardstrecke. Diagonal über den ersten Hof, im Erdgeschoß quer durch den Gymnasialtrakt, über den Brunnenhof, durch den Wirtschaftskorridor in den Hintergarten, neben der großen Platane durchs Lanzengittertor, die nördliche Begrenzungsmauer entlang, nach rechts in die Abt-Reginald-Straße, vorbei an der Kanzlei des
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