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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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wurde.
    »Oder?«
    »Oder was?!«
    »Du. Ein Kopfdoktor? Ein Nervenarzt!?«
    »Ja. Und?«
    »Mimi fällt hin.«
    »Was heißt das: Mimi fällt hin?«
    Die Katze habe ihn ins Badezimmer begleitet, erzählte Tobias, und wie immer augenblicklich den Zahnpastatubenverschluss vom Waschbecken geklaut. Den habe sie im Kreis vor sich her getrieben, ihn schließlich ins Maul genommen und zum Sprung auf den Badewannenrand angesetzt. In diesem Moment sei sie erstarrt, wie ein Stück Holz zur Seite gekippt und liegen geblieben. Er habe erst gedacht, sie sei tot, dann aber das Zucken ihrer Schnurrbarthaare bemerkt und sie in die Flanke gestupst. Daraufhin habe sie versucht, ihn zu beißen, das Ganze allerdings total in Zeitlupe. »Und wo ist sie jetzt?«, fragte Horn. »Auf dem Ringlottenbaum«, erwiderte Tobias.
    »Und was tut sie dort in einem Zustand des Nahtodes?«
    »Du nimmst mich nicht ernst.«
    »Ich meine, ist sie auch in Zeitlupe raufgeklettert?«
    Tobias lief rot an und pochte mit den Fingerknöcheln gegen die Tischplatte. »Du bist sowas von arg!«, rief er. Die Katze habe sich rasch wieder verhalten wie üblich, sei daher wie üblich dieser Blaumeise hinterher, und die Blaumeise sei, wie üblich, schneller gewesen.
    »Katzen lassen sich zur Seite fallen«, sagte Horn, »einfach so. Das kennt jeder und es hat nichts mit einer Krankheit zu tun.« Tobias funkelte ihn an. »Weißt du was? Deine Patienten tun mir leid.«
    »Pass auf, was du sagst!«
    »Raffael!« Horn merkte zu spät, dass er den Arm gehoben hatte. »Was ist? Schlägst du mich?«, fragte Tobias, »das scheint ja momentan in Mode zu sein.« Horn holte tief Luft. »Ich schlage dich nie«, sagte er, »das weißt du.« Tobias grinste, dann wurde er kühl. An dreimal könne er sich erinnern, sagte er, und von den Malen, die er nicht mehr wisse, brauche er ihm, dem Psychiater, wohl nichts zu erzählen. »Ein einziges Mal«, sagte Horn, »wenn überhaupt.«
    »Dreimal«, sagte Tobias und beugte sich über den Tisch, »willst du wissen, wie es sich angefühlt hat?« Horn lehnte sich zurück und musterte seinen Sohn. Er erinnerte sich, wie Tobias auf dem Bett gelegen war, schlafend, den Speichelfleck vor dem Mund, und es fielen ihm die Worte ein, mit denen er den Zustand der Katze beschrieben hatte. Ohne dass er etwas dagegen tun hätte können, ging die Sache mit ihm durch. »Bist du wieder einmal bekifft?«, fragte er.
    Irene Horn saß regungslos da, die Hände flach vor sich. Die Decke war ihr von den Schultern gerutscht. Auf ihrem Teller hockte eine Wespe und schnitt winzige Scheibchen aus dem Rest eines Schinkenblattes. Konfusion trat in Tobias’ Gesicht, dann schien er sich völlig nach innen zu kehren. Sein Blick endete einen halben Meter vor seinem Gesicht, als er den Arm ausstreckte, Horns Ei aus dem Becher hob, es mit der Hand umschloss und zudrückte. Gelber Matsch quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er nahm eine Serviette vom Tisch, wischte sich sorgfältig ab, zerknüllte sie und legt sie vor Horn hin. Dann wandte er sich um und ging.
    Wie ein Gemälde, dachte Horn, während sein Blick über den Tisch wanderte: der Krug mit dem Orangensaft, das angebrochene Weißbrot, die zerknüllte Serviette mit den Osterhasen drauf und die Wespe, die sich eine Schinkenportion zwischen die Vorderbeine klemmte und abflog. Im Hintergrund die Wiese mit den Haselnussbüschen mittendrin, danach der Wald. In der Luft der Duft der Spirea, die rechts an der Ecke des Hauses wuchs, das Schnalzen eines Rotschwanzmännchens und ein scheppernder Motormäher. Hinter ihm waren Irenes Schritte zu hören, die sich auf das Haus zubewegten. Wespen waren um diese Jahreszeit absolut unüblich; das fiel ihm in diesem Moment ein.
    Tobias war zehn gewesen, nach der vierten Volksschulklasse, und voller Energie. Er hatte Ferraris gezeichnet, Igeljunge gerettet und in der U12-Fußballmannschaft seine ersten Tore geschossen. Die Idee, ihn mit Jakob und Benny, seinen besten Freunden, auf ein Ferienlager ins Waldviertel zu schicken, war absolut logisch gewesen. Sie hatten einen Schlafsack, eine Proviantdose und eine Stirnlampe gekauft und am Ende beschlossen, Mike, den Teddybären, doch zu Hause zu lassen. Er hatte sich neben dem gepackten Rucksack schlafen gelegt, und keiner hatte auch nur im mindesten daran gedacht, dass da etwas schiefgehen könnte. Horn erhob sich.
    Sie saß mit gesenktem Kopf auf ihrem halbdesolaten Bugholzstuhl und spielte eine wilde Melodie, die er nicht kannte,

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