Das Matrazenhaus
Mediziner müsse er das äußerst bedenklich finden, sagte Horn, der See könne unmöglich mehr als zwölf Grad haben. »Dreizehn Komma zwei auf eins zwanzig Tiefe. Behaupten die Biologen«, sagte Frühwald. An der biologischen Beobachtungsstation war seit einem Jahr eine elektronische Messstelle eingerichtet, die Temperatur, Sauerstoffgehalt und Nitratbelastung des Sees auswies. In der Gemeinde war man anfänglich skeptisch gewesen, doch die Touristen pilgerten inzwischen hin, als atmeten sie alle mit Kiemen. Wie er die Kälte aushalte, fragte Horn, wo er doch nachgewiesenermaßen kein Pinguin sei. »Vielleicht ein Walross«, sagte Frühwald, »Walrosse haben mich immer schon fasziniert, Seeelefanten genauso. Einerseits sind sie sanfte Riesen, in die man hineinboxen möchte wie in dicken Schaumgummi, andererseits haben sie Kiefer, mit denen sie dich glatt entzweibeißen können.« Er sei mit Frank Holderegger, dem Inhaber des Wassersportgeschäftes, befreundet, erzählte er, und der borge ihm jeweils den passenden Neoprenanzug. Das sei das Geheimnis, nicht irgendeine versteckte Fettschicht um die gefährdeten Organe. Ab Ostern, wenn es nicht gerade auf Mitte März falle, reiche in der Regel ein Vier-Millimeter-Shorty und Anfang Juni habe der See dann achtzehn Grad, was Badehose bedeute. »Und jetzt?«, fragte Horn.
»Jetzt? Jetzt geht gar nichts.« Eigentlich herrschten Sechs-Millimeter-Bedingungen, sagte Frühwald, Arme und Beine bedeckt, damit bleibe er auf den vollen dreieinhalb Kilometern angenehm warm. Aber von einem eigentlich könne man sich bekanntlich nichts kaufen. Der Zustand seiner Frau erlaube es nicht, dass er sie länger als ein paar Minuten allein lasse, daher sei es momentan nichts mit Schwimmen. »Das macht mich unrund«, sagte er, »sehr unrund.« Er schnippte die Zigarette weg. Er schlafe schlecht, sei unfreundlich zu seiner Umgebung und habe wieder zu rauchen begonnen. Horn schaute sich um. »Und wo ist Ihre Frau jetzt?«, fragte er. »Zu Hause«, sagte Frühwald und blickte auf die Uhr, »es sind erst zwanzig Minuten. Fahren wir?«
»Was heißt: Fahren wir?«
»Ich will, dass Sie sie sehen.« Er öffnete die Beifahrertür. Horn hob abwehrend die Hand. »Sie wissen, dass das für einen Spitalsarzt nicht so einfach geht«, sagte er. »Wenn man will, geht alles«, sagte Frühwald und fasste Horn am Oberarm. Horn langte in die Jackentasche und zog sein Handy hervor. »Rufen Sie den Sicherheitsdienst?«, fragte Frühwald. Horn schüttelte den Kopf. »Ich schwimme zwar weniger als Sie, aber ich schaufle täglich Rindenmulch«, sagte er, »und angesichts meiner Reichweitenvorteile würde ich mit Ihnen auch alleine fertig, schätze ich.« Frühwald grinste und ließ los.
Herbert war dran. Nein, an der Abteilung gebe es nichts Dramatisches. Frau Hrstic sei in einem Anfall nächtlicher Verwirrtheit über ihr Steckgitter geklettert, aus dem Bett gestürzt, habe sich den Oberarm gebrochen und sei vorübergehend auf die Unfallchirurgie verlegt worden. Frau Steininger, ihre Zimmerkollegin, sei durch ihre Abwesenheit total irritiert und suche sie die ganze Zeit. Außerdem habe es jede Menge Anrufe gegeben, mehrere Zeitungen, Sabrinas Vater und die Polizei. Nein, er wisse nicht, was die Polizei gewollt habe. Die Beamtin habe gesagt, es sei nicht dringend. Ansonsten? Ansonsten das Übliche.
»Fahren wir«, sagte Horn. Frühwald atmete durch. »Danke«, sagte er.
Sie fuhren ein Stück das Achenufer entlang und hielten sich am Kreisverkehr vor der Severinbrücke in Richtung Furth Nord. Eine Zeitlang bremste sie ein Milchtankwagen. Frühwald schaltete unentwegt zwischen dem dritten und vierten Gang hin und her. Er schwieg dabei. Erst als sie unmittelbar vor den Wohnblocks östlich in eine Nebenstraße abbogen, machte er den Mund auf. »Wissen Sie, wofür ich Sie bewundere«, sagte er, ohne sich Horn zuzuwenden, »– dafür dass Sie imstande sind, sich mit Kindern zu beschäftigen.« Horn fragte nicht nach und Frühwald erklärte, er habe es in der Zeitung gelesen.
Das Haus, das sich oben auf dem Hügelscheitel hinter einer gut mannshohen Hainbuchenhecke verbarg, war ein unspektakulärer ebenerdiger Sechzigerjahre-Bungalow: L-förmiger Grundriss, ziegelgedecktes Satteldach, angebaute Garage. Wie für eine Rollstuhlfahrerin geplant, dachte Horn. »Man braucht keinen Treppenlift«, sagte Frühwald, »das ist aber auch schon der einzige Vorteil.« Die Innentüren seien zum Beispiel nur fünfundsiebzig
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