Das Maya-Ritual
Stelle schon ganz dünn war. Ken trug eine altmodische Taucherbrille mit einer Neopreneinfassung anstatt einer aus Silikon.
»Ich glaube, deine Maske ist nicht mehr die jüngste«, sagte ich. »Zeit für eine neue.«
»Das Schusterkind geht in den ältesten Schuhen«, sagte er und spielte damit auf die Tatsache an, dass er einen Taucherladen besaß und jeden Tag eine neue Maske tragen konnte, wenn er wollte. Aber dieser Widerspruch war typisch für ihn.
»Du bist Letzter«, rief ich, setzte mein Mundstück ein und ließ mich ins Wasser gleiten. Dann holte ich Luft und tauchte unter.
Es war, als würde man in Gemüsebrühe getunkt. Ich sah mich um, konnte jedoch nur sehr wenig erkennen in dem düsteren Licht. Ich machte einen Flossenschlag und nahm einen Hauch von Schwefel durch meinen Atemregulator wahr. Als ich wieder nach oben zum Licht blickte, sah ich, dass ich nun durch eine orangefarbene Flüssigkeit schwamm. Der Schwefelwasserstoffgeruch verriet mir, dass es sich um eine Schicht aus Bakterien handelte, die sich an dem Laub und Kot, den Insekten und Federn gütlich taten, die unablässig in den Teich rieselten und in den Algen hängen blieben.
Dann war Ken neben mir, und wir schalteten unsere Lampen an. Rings um den klaren Bereich in der Mitte hingen gelbgrüne Algen herab wie schleimiges Louisianamoos oder in knotigen Klumpen wie Goldregen, und in sie verwoben war die orangefarbene Bakterienschicht wie Nebel auf einem Science-fiction-Filmplaneten. Wir befanden uns etwa zwei Meter unterhalb der Oberfläche, aber schon jetzt trug das Sonnenlicht so gut wie nichts mehr zur Sicht bei. Wir richteten unsere Lampen auf den Grund, und die Strahlen prallten von einem undurchdringlichen Schleier ein kurzes Stück vor unseren Masken zurück. Als wir abwärts schwammen, warf ich einen letzten Blick nach oben, wo unsere Plattform im Halo eines trüben Sonnenlichts auf Postkartengröße schrumpfte.
Wir kamen nun in beinahe völlige Dunkelheit. Ich schaute auf meinen Tiefenmesser. Wir waren erst sechs Meter unter der Oberfläche.
Plötzlich stießen wir in einen Bereich mit verblüffend klarem Wasser vor. Als wir unsere Lampen umherschwenkten, durchdrangen die Strahlen den Zenote bis zu den schlammbedeckten Wänden in dreißig Meter Entfernung. Sechs Meter tiefer trafen die Wände auf den Boden, der dann steil zur Mitte hin bis auf eine Tiefe von zwölf Metern unter uns abfiel, als würde er in ein Loch abfließen. Ken und ich waren wie zwei Stäubchen, die in einer Sanduhr schwebten und in den Ablauf hinabblickten. Die Vorstellung, ich befände mich in einer Eieruhr, brachte mich sofort auf zwei entmutigende Gedanken: zum einen, dass ich überhaupt nicht auf den Boden des Zenote schaute, sondern auf eine schwarze Schlammschicht mit glatter, nur leicht flockiger Oberfläche. Und zum anderen, dass weiter unten eine zweite Kammer existierte, eine Höhle von ähnlicher Größe wie der Auffangbehälter, in den wir getaucht waren. Das war zwar nicht erwiesen, aber die Form des Schlammbodens legte es doch sehr nahe.
In dieser Umgebung fehlte jedoch etwas, was mir als Biologin sofort auffiel: Es gab keinerlei Anzeichen von tierischem Leben. Man könnte meinen, ins Sonnenlicht getauchte Zenoten würden eine üppige Fauna beherbergen, aber überraschenderweise schwimmen Wassergeschöpfe nur in den finstersten Winkeln unterirdischer Höhlen umher.
Ken unterbrach meine Gedanken. Er signalisierte mir , dass er nun mit seiner systematischen Inspektion des Bodens beginnen würde, was auch bedeutete, dass er mit jeder Runde, die er vollendete, mehr Leine lassen würde, wie eine Spinne beim Netzbau. Da das Wasser klar war, würden wir einander im Auge behalten können, ich entfernte mich deshalb von ihm, um unterhalb der Steilwand nachzusehen, von der Goldbergs Mörder den abgetrennten Kopf geschleudert hatten.
Ich blickte auf meinen Kompass und wandte mich nach Osten. Die Seite des Zenote war nur eine farblose Grenze in der Ferne. Ich schwenkte meine Lampe auf und ab, während ich auf die senkrechte Wand zuschwamm, die bald ein gelbbraunes Aussehen annahm, wie das Innere eines mit Kalkablagerungen bedeckten Kessels. Hier und dort war sie von tiefen, dunklen Nischen unterhöhlt, die ich bei diesem Tauchgang sicher nicht erkunden würde. Die glatte, konkave Schlammschicht unter mir war an manchen Stellen von Baumstümpfen und Ästen unterbrochen.
Ich blickte zu Ken zurück und sah seinen Lichtstrahl suchend über den Boden
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