Das Maya-Ritual
Eis in ein ohnehin kaltes Bier gab. Er trug saubere Shorts und T-Shirt, aber selbst in diesem klimatisierten Hotel schwitzte er noch.
»Bestell mir ein Dos Equis«, sagte ich. »Ich bin gleich zurück.« Als wir ins Hotel kamen, hatte ich unweit der Eingangshalle einen Souvenirladen gesehen.
Ich traf wieder an der Bar ein, als auch mein Bier gerade kam, und stellte eine Geschenktasche vor Ken hin. Er öffnete sie äußerst argwöhnisch und entnahm ihr ein Paket in durchsichtiger Zellophanhülle.
»Ein Hemd!«, rief er überrascht.
»Nicht einfach ein Hemd, sondern ein Guayabera aus Baumwolle. Das tragen die Einheimischen auf Yukatan gegen die Hitze. Zieh es an, bevor du nach Hause fährst.«
Ich hatte beschlossen, einen Aeromexico-Flug direkt von Pistés kleinem Flugplatz nach Cozumel zu nehmen, statt zwei Stunden lang bei Ken im Auto mitzufahren und dann in dasselbe Flugzeug zu steigen, wenn es in Cancun zwischenlandete. Und da wir schon einmal hier waren, wollte ich die Gelegenheit nutzen, das Phänomen zur Tagundnachtgleiche zu beobachten.
»Ich dachte, du würdest machen, dass du so schnell wie möglich hier wegkommst«, sagte Ken.
»Du meinst nach dem Erlebnis heute Morgen? Ich gebe zu, es war gruselig. Aber ich habe schon so viel von diesem Sonnenspektakel gehört… Nanu, ist das nicht der amerikanische Verteidigungsminister?« An einem Ende der Bar lief leise ein Fernsehgerät, und man sah eine Karte des Grenzgebiets zwischen Mexiko und Kalifornien im Hintergrund, während ein Interviewer Vertretern beider Seiten Fragen stellte. Gerade wandte er sich an den Verteidigungsminister.
»Schon möglich«, sagte Ken, der nicht die leiseste Ahnung hatte.
»Hör mal zu… sie reden über diesen Grenzzwischenfall.«
»Welcher Zwischenfall? Ich habe nichts von einem -«
»Sei mal kurz still:..«
Interviewer: »… und der frühere US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger hat in dem Buch Der nächste Krieg, dessen Koautor er ist, vorhergesagt, dass zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ernsthafte Konflikte zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ausbrechen würden. Befinden wir uns am Rande solcher Geschehnisse?«
Verteidigungsminister: »Ich glaube nicht, dass es in dieser Lage irgendwie hilfreich ist, darüber zu spekulieren, ob einer meiner Vorgänger die Fähigkeit besaß, zukünftige Ereignisse vorherzusagen.«
»Aber ich gebe zu bedenken, dass er ein Szenario beschrieb, bei dem unter anderem US-Truppen in Mexiko einmarschieren, um eine Flut von Millionen von Einwanderern am Überqueren der Grenze zu hindern und soziale Unruhen in diesem Gebiet zu ersticken… und genau das liegt nun im Bereich des Möglichen, seit wir Aufrufe zu einer Masseninvasion Kaliforniens hören.«
Verteidigungsminister: »Diese Aufrufe kommen von einer extremistischen Minderheit ohne Mandat. Und die mexikanische Regierung weiß, dass wir jeden Versuch, auf amerikanischen Boden vorzudringen, entschlossen beantworten werden.«
Interviewer: »Aber hören die mexikanischen Militärs auf Sie? Es gibt Berichte, nach denen Armeeeinheiten angeblich die fortgesetzten Studentenunruhen in einigen Städten unterstützt haben. Lassen Sie mich diese Frage an Heeresminister Pablo Gutierrez richten - Herr Minister, was sagen Sie dazu?«
Heeresminister: »Kalifornien ist bereits dabei, in die Zuständigkeit Mexikos zurückzukehren, ohne dass wir einen einzigen Schuss abgeben mussten. Es sind die Vereinigten Staaten, die den Finger am Abzug haben.«
Verteidigungsminister: »Ich weise diese letzte Bemerkung zurück. Und die Andeutung, die spanischstämmigen Bürger Kaliforniens hätten vor, eine Art mexikanischen Superstaat zu schaffen.«
Heeresminister: »Ich bin überzeugt, die nichtspanische weiße Minderheit in Kalifornien wird jede demokratische Entscheidung hinsichtlich der Zukunft ihres Staates akzeptieren.«
Verteidigungsminister: »Das ist zu diesem Zeitpunkt eine höchst unverantwortliche Äußerung, Senor Gutierrez.«
Heeresminister: »Lassen Sie mich den geschätzten Staatsbibliothekar von Kalifornien zitieren: ›Die angelsächsische Hegemonie war nur eine Zwischenphase im Identitätsbogen Kaliforniens, der sich seit der Ankunft der Spanier spannt. Der spanische Charakter Kaliforniens war stets erkennbar und wurde zwischen 1880 und 1960 nur vorübergehend verschüttet, aber das war ein Irrweg.‹«
Verteidigungsminister: »Das ist schamlose Propaganda Ihrerseits und hat mit dieser Diskussion nichts…«
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