Das Maya-Ritual
Entwicklungen gab, und wollte Deirdre eben fragen, ob sie etwas gehört hatte, als im Lokal die Jazzband zu spielen begann, und wir beschlossen hineinzugehen.
Drinnen war das Publikum zahlreicher geworden, aber es gab noch einen freien Tisch mit Blick auf die Bühne vor der Bank an der Wand. Eine junge Frau kam und nahm unsere Bestellung entgegen, während wir uns zurücklehnten und die Band genossen. Sie spielten eine Mischung aus Salsa mit Jazzeinflüssen sowie anderen lateinamerikanischen und karibischen Rhythmen, und sie hatten ein paar gute Sänger, einen großen, dunkelhäutigen Mann in einem Hemd mit grellem Blumenmuster, der hauptsächlich Calypso und Reggaestücke knurrte, und eine winzige Lateinamerikanerin in einem hautengen rosa Kleid, die aus kräftigen Lungen die restlichen Nummern schmetterte.
Bei jedem Durchgang wurde es enger auf der Tanzfläche, und mit der Zeit bemerkten wir, dass ein älteres Paar, solange wir da waren, noch keinen Tanz ausgelassen hatte. Sie wirkten eher afro-karibisch als mexikanisch, und sie tanzten so geschmeidig und rhythmisch, dass sie alle anderen unbeholfen aussehen ließen. Deirdre und ich tauschten einen Blick, als sie an uns vorüberschwebten.
»Die haben’s drauf«, bemerkte ich.
»Ich würde sagen, das sind Kubaner«, ergänzte sie, während ihr Kopf im Takt der Musik nickte.
Als die Runde zu Ende ging, fielen mir ein paar Männer auf, die zusammen in die Bar kamen und an der Bühne vorbeigingen. Sie wurden angeführt von einem Mann mit öligen, schulterlangen Ringellocken, einem weiten, am Kragen offenen, weißen Hemd und einer Lederhose - der Latino, wie er im Buche stand. Ich stieß Deirdre in die Rippen.
»Wow, da ist Zorro«, rief sie aus.
Als er hereinkam, war uns sein Gesicht halb zugewandt gewesen, jetzt sah ich es im Profil: »Pinocchio«, verbesserte ich sie. Er hatte eine schmale, spitze Nase, die waagrecht aus seinem Gesicht ragte.
Wir sahen zu, wie er zur Theke strebte, dann traf eine neue Runde Drinks für uns ein, und die Band kündigte eine kurze Pause an.
»Entschuldigung, ich geh mal zur Toilette«, sagte Deirdre.
Ich spielte eine Weile mit dem Rührstäbchen in meinem Margarita und dachte über die Studenten aus Houston nach. Zwischenfälle an der mexikanisch-amerikanischen Grenze so weit im Norden wirkten sich nur selten auf unser Leben in Yukatan aus, und es war, soweit ich mich erinnerte, das erste Mal, dass es hier zu einer Art Vergeltung gekommen war, falls es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sollte den Studenten etwas zustoßen, war mindestens eine Verschärfung des verbalen Krieges zwischen den beiden Ländern wahrscheinlich, wenn nicht Schlimmeres. Und dann gab es ja auch noch dieses ungeklärte Verbrechen, das in den letzten Tagen scheinbar in Vergessenheit geraten war, den Mord an Nick Goldberg.
Nach etwa zehn Minuten fiel mir auf, dass Deirdre nicht wieder zurückgekommen war. Ich blickte in Richtung Bar und sah sie dort im Gespräch mit einem hoch gewachsenen Mann mit fliehender Stirn, in die eine Matte aus glattem, schwarzem Haar hing. Die kräftige Adlernase setzte sich ohne Bruch von der Stirn fort, wie ein normannischer Helm, und seine untere Gesichtshälfte prägte ein markantes Kinn unter vollen Lippen, die von weitem zornig geschürzt aussahen. Von seiner Körpergröße und der hellen Haut abgesehen, hätte ich ihn ohne weiteres als Maya eingestuft. Neben ihm und Deirdre stand ein zweiter Mann, kleiner und breiter, aber ebenfalls mit Mayaabstammung, seine Augen huschten jedes Mal zur Tür, wenn jemand in das Lokal kam. Beide Männer trugen weiße Guayaberas.
Die Band stieg wieder auf die Bühne, und Deirdre trennte sich von den beiden Maya.
»Du fraternisierst mit den Eingeborenen!?«, sagte ich in gespieltem Entsetzen, als sie sich wieder setzte.
»Sie sind in der Prozession mitgegangen. Das Kreuz, das sie alle trugen, steht offenbar für den Kapokbaum, der den Maya heilig ist.«
»Dann sind es also keine christlichen Kreuze?«
»Nein, aber sie haben die Maya oft vor Verfolgung bewahrt, weil die Spanier sie für welche hielten.«
»Wie bist du mit ihm ins Gespräch gekommen?«
»Als ich an ihm vorbeiging, hörte ich ihn mit dem anderen Kerl reden, vermutlich in Mayasprache, den paar Worten nach, die ich von Alfredo kannte. Deshalb habe ich ihn auf dem Rückweg gefragt, und er sagte, ja, sie würden den yukatanischen Mayadialekt sprechen. Ich erzählte ihm, ich sei Irin, und gab ein paar Sätze
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