Das Meer Der Tausend Seelen
ihre Haut blass, grau und pockennarbig. Sie trägt so etwas wie einen schwarzen Rock, der sich im Wasser um ihre Knie bauscht. Ein dunkles Hemd klebt klatschnass an ihrem Körper.
Sie wiegt sich ein wenig im Wasser, und ich halte den Atem an, während ich darauf warte, dass meine Mutter ihr den Todesstoß versetzt, mit dem Schaufelblatt ihren Hals durchschneidet und den Kopf abtrennt.
Aber der Stoß bleibt aus. Ich starre nach unten zu meiner Mutter. Sie steht nur da, mit hoch über dem Kopf erhobener Schaufel.
Ich beobachte, wie die Mudo anfängt zu zucken. Der Mund öffnet und schließt sich, und sie dreht den Kopf, als sie meine Mutter wittert.
Bald wird sie sich aufrichten – und meine Mutter unternimmt nichts, um sie daran zu hindern. Sie steht nur da und schaut, und das ergibt keinen Sinn.
Ich lehne mich übers Geländer. »Mutter!«, schreie ich. Aber der Wind weht vom Meer her, sie hört mich nicht. Ich schreie noch einmal, wieder vergeblich.
Einen Augenblick lang will ich springen. Ich denke daran, das Geländer fest zu packen, mich nach unten zu stürzen und neben ihr zu landen. Doch dann drehe ich mich um und renne. Mein Körper stößt gegen die Wände, als ich die Treppen hinunterrase.
Im Laufen male ich mir das Schlimmste aus: dass ich gerade dann an den Strand komme, als der Mudo aufsteht. Dass meine Mutter immer noch dort abwesend und starr steht, als ob sie sich an einem anderen Ort befände.
Dass ich sehe, wie der Mudo meine Mutter beißt.
Mir wird eiskalt, und ich sprinte auf die Tür zu, so kraftvoll und so schnell ich kann. Ich zwinge mich, mich daran zu erinnern, dass meine Mutter sich verteidigen kann. Sie wird den Mudo längst getötet haben, noch bevor ich im Freien bin, und wir beide werden lachen, weil die Panik mich übermannt hat.
»Mutter!«, schreie ich, schnappe mir meine Klinge vom Eingang und trete die Tür auf. Die salzige, nasse Hitze schlägt mir entgegen, und die Luft weht das leise Stöhnen der Mudo am Strand heran.
Ich laufe um die Ecke zum Tor, nestele daran. Die Mudo ist auf die Knie gegangen, richtet sich auf. Sie streckt erst die eine Hand nach meiner Mutter aus, dann die andere.
»Töte sie!«, brülle ich. Wut und Angst befeuern jeden meiner Atemzüge. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht, verstehe nicht, warum meine Mutter sich nicht rührt, nichts tut. Bilder der letzten Nacht blitzen in meinem Kopf auf: Wie ich dastehe, Auge in Auge mit dem Breaker. Wie ich versage und wie Catcher gebissen wird.
Der schwere Sand zieht an meinen Füßen, ein Sprint ist unmöglich. Ich stolpere den Strand entlang und habe mich noch nie so nutzlos gefühlt. Ich muss schneller sein, aber meine Beine gehorchen nicht.
Die Mudo will meine Mutter anfallen, die der Frau mit der Schaufel auf den Rücken schlägt. Die Mudo stolpert ein paar Meter den Strand entlang, ihr nasser schwarzer Rock wickelt sich um ihre Beine und bringt sie zu Fall.
»Was machst du da?«, schreie ich. »Töte sie!«
Die Mudo greift wieder nach meiner Mutter, erneut stößt die sie zurück. Wie eine Katze, die mit einer Maus spielt, schubst sie die Frau von sich weg, und die Mudo stürzt sich immer wieder auf sie.
Endlich bin ich in der richtigen Entfernung zum Zuschlagen. Ich will ausholen und meinen Fehler von letzter Nacht wiedergutmachen, als meine Mutter den Schaft packt. Sie reißt mir die Waffe aus der Hand und schleudert sie in den Sand. Mit einer Armbewegung schubst sie mich weg von der Mudo.
»Tut mir leid«, sagt sie. Ob sie mit der Mudo redet oder mit mir, weiß ich nicht. Sie rammt ihre Schaufel in das Knie der Mudo-Frau, zerreißt den ausgefransten Rock und zertrümmert mit einem widerwärtigen Krachen die Knochen und Gelenke darunter.
Ich zucke zurück, als die Mudo stolpert. Ein letztes Mal greift sie mit gekrümmten Fingern nach meiner Mutter.
Einen winzigen Moment lang starrt meine Mutter sie an, und ich will schon wieder schreien, will sie wieder anbrüllen, die Frau doch endlich zu töten, da schließt sie die Augen, senkt die Schaufel und hackt der Mudo den Hals durch.
Nach Luft schnappend, presse ich die Hand auf meine Brust. Ich dachte, ich hätte meine Mutter verloren. Die Ungeheuerlichkeit dieses Gefühls durchflutet mich und schwemmt alles aus mir heraus, bis auf die Wut darüber, dass sie so etwas Dummes tun konnte.
Und die Angst, dass ich vielleicht zu spät gekommen bin.
Meine Mutter starrt auf den Körper der Mudo. Sie streckt die Hand aus, eine Weile verharrt sie
Weitere Kostenlose Bücher