Das Meer Der Tausend Seelen
wirklich an jemandem liegen würde – wenn du ihn vielleicht sogar lieben würdest –, dann würdest du ihm hinterhergehen?«
Ihr Mund öffnet und schließt sich, und für einen Moment erinnert sie mich an einen Fisch, der an den Strand geworfen wurde und nicht atmen kann.
»Ich …« Ihre Augen werden feucht, nur für den kurzen Moment, bis sie die Tränen wegblinzelt.
Als sie verstummt, wird mir klar, dass ich sie getroffen habe. Ich habe einen Bereich im Leben meiner Mutter angetastet, von dem ich bisher nichts gewusst hatte.
»Es spielt keine Rolle mehr«, sagt sie schwach.
Ich denke an Catcher, allein und in Todesangst hinter der Barriere. Ohne jemanden zum Reden, ohne jemanden, dem er sich anvertrauen kann. Niemand, dem er seine Erinnerungen mitteilen kann, damit er nicht in Vergessenheit gerät. Was für ein Gefühl wäre das wohl, wenn ich diejenige wäre, die verloren wäre – allein und infiziert. Ein furchtbarer Gedanke, der mir den Blick vernebelt.
Ich presse die Finger auf meine Lippen und erinnere mich daran, wie ich mich in seiner Nähe gefühlt habe. Im Augenblick weiß ich nicht, was ich tun oder was ich empfinden soll, und ich brauche die Hilfe meiner Mutter. »Warst du schon mal verliebt?« Ich zögere, ehe ich hinzufüge: »Hast du meinen Vater geliebt?« Sie hat mir nie etwas über ihn erzählt, nie von ihm gesprochen oder Geschichten überliefert. Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, nicht nach ihm zu fragen. Es ist also nicht weiter verwunderlich, warum meine Mutter so schweigsam wird, als ich auf ihn zu sprechen komme.
»Spielt keine Rolle«, sagt sie.
»Wer war er?«
Sie schüttelt den Kopf, zieht sich zurück.
»Was ist ihm zugestoßen?« Ich dränge immer weiter.
Sie lässt sich auf die Knie sinken, in den Sand, das Wasser läuft ihr über die Beine. Ihr Rock liegt wie ein Fächer auf dem Boden, der Stoff wird von der Nässe dunkler. »Als ich in deinem Alter war, habe ich zwei Männer geliebt. Der eine hat sich angesteckt und ist gestorben. Den anderen habe ich im Wald zurückgelassen, als ich geflüchtet bin.« Ihre Worte sind ein Flüstern, kaum laut genug um dem Wind standzuhalten.
Meine Mutter redet selten über ihr früheres Leben, dies ist das erste Mal, dass ich so viel darüber höre. Das ist ein kleiner Einblick in ihr Leben, als sie so alt war wie ich, und ich stürze mich gierig darauf.
Ich knie mich vor sie hin und halte ihre schlaffen Finger. Sie sind feucht von den Wellen, die uns umspülen, die Haut runzelt sich schon und wirft Falten, als wäre sie müde vom Alter. »Warum hast du ihn nicht geholt?«, frage ich. »Wenn du ihn geliebt hast, warum bist du dann nicht zurückgegangen?«
Sie sieht mich an, ihr Blick geht ins Ungewisse, als wäre sie nicht da, als würde sie an mir vorbeischauen und jemand anderen ansehen. »Mein Bruder hat einmal zu mir gesagt, dass man jemanden nicht wirklich geliebt haben kann, wenn man bereit ist, ihn gehen zu lassen. Wenn man nicht bereit ist, für ihn zu kämpfen«, antwortet sie tonlos, als würde sie ein Gedicht aufsagen, das sie vor langer Zeit gelernt hat.
»Ich habe immer gewusst, dass ich ihn liebte«, murmelt sie vor sich hin. »Aber ich glaubte, es war nicht die Art Liebe, die ich wollte. Und ich habe ihn verlassen. Ich ließ ihn gehen.« Sie starrt auf unsere Hände.
»Vielleicht hat mein Bruder recht gehabt, und das, was ich für Liebe gehalten habe, war nur …« Sie beendet den Satz nicht. »Vielleicht habe ich mich selbst bloß mehr geliebt.«
Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Es ist, als wären unsere Rollen vertauscht, und jetzt bin ich die Mutter. So habe ich sie noch nie erlebt, sie war immer stark, hatte alles im Griff. Es macht Angst zu erkennen, dass sogar die stärksten von uns solche Schwächen haben.
Sie seufzt. »Ich habe es versucht«, sagt sie. »Ich habe versucht zurückzugehen. So viele Male habe ich es versucht. Die Leute in der Stadt haben mir nicht geglaubt, als ich ihnen erzählte, dass ich aus dem Wald war. Sie dachten, ich hätte Wahnvorstellungen und wäre von einem Piratenschiff geflohen. Sie wollten niemanden zurück in den Wald schicken, und als ich schließlich selbst gehen konnte …«
Ihre Stimme versagt, sie schluckt ein paarmal. »Ich hatte viele Jahre hier gelebt und Roger geholfen, die Strände zu schützen, und dann bin ich weggegangen. Ich dachte, ich könnte vergessen und weitermachen. Aber das konnte ich nicht. Der Wald hat immer wieder nach mir gerufen.
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