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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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klinge.
    Jetzt ist er derjenige, der zurückweicht. Seine Miene verfinstert sich.
    »Wir sind eine Stadt des Protektorats. Es ist unsere Pflicht. Abgesehen davon ist die Aussicht auf volle Bürgerrechte und die Möglichkeit in den Geschützten Zonen zu leben, den Einsatz wert.«
    »Vista ist geschützt genug«, blaffe ich, weil ich es satthabe, immer zu schweigen. Zähneknirschend füge ich hinzu: »Ich sehe einfach nicht ein, warum man woanders hinwollen sollte.« Ich will auch noch sagen, dass es sinnlos ist, die Mudo zu bekämpfen und diesen nie endenden Krieg zu führen, aber das würde er nicht verstehen. Bei ihm einen Sinneswandel herbeizuführen, ist ebenso aussichtslos wie der Versuch, die Mudo auszulöschen.
    Er errötet leicht vor Wut und öffnet schon den Mund. Ich könnte ihn zu sehr gereizt haben.
    Also schneide ich ihm rasch das Wort ab. »Tut mir leid«, sage ich. Mir fehlt die Kraft zum Streiten. Diese Worte habe ich heute häufiger gesagt als in meinem ganzen bisherigen Leben. »Danke, dass du mir das gebracht hast.« Ich halte die Schachtel hoch. »Es war sehr nett von dir, diesen Umweg zu machen.«
    Wenn ich in den letzten Monaten eines von Cira gelernt habe, dann, wie man junge Männer mit Komplimenten beschwichtigt. Bei Daniel funktioniert es. Seine Schultern entspannen sich, bevor er sich langsam zurück auf den Weg zum Tor macht und mich endlich allein lässt.

7
    D en größten Teil des Tages verbringe ich damit, an der Barriere entlangzuwandern und die Miliz beim Marschieren und Patrouillieren zu beobachten. Als ich schließlich zum Leuchtturm zurückkomme, ist meine Mutter nicht da. Doch ich weiß, sie wird bald zu Hause sein, noch vor dem Hochwasser. Ich stelle die Schachtel auf den Tisch und gehe in den kleinen Räumen auf und ab. Ich möchte rennen, weiß aber nicht, wohin. Ich möchte irgendwas tun, weiß aber weiß nicht, was.
    Deshalb klettere ich hoch auf die Galerie und schaue ins Land. Ich versuche herauszufinden, wie ich über die Barriere kommen und Catcher aufspüren kann, wie ich den nötigen Mut dazu aufbringe.
    Aber es gibt einfach nicht so viele Wege, die aus Vista herausführen. Die Stadt kauert auf einer Halbinsel, drei Seiten sind vom Wasser geschützt und die vierte von einer dicken Mauer, die sich als Hafendamm bis ins Meer hinein zieht.
    Im Rathaus gibt es alte Fotos, die zeigen, wie es vor der Rückkehr in Vista ausgesehen hat. Glänzende Gebäude säumen die ganze Küste, Hotels und Läden direkt am Meer. Es war ein Ort, an dem niemand wohnte und den alle besuchten. Ein Ort zum Entspannen. Offenbar hatten sie es sich in ihrer Welt leisten können, sich freizunehmen von den Pflichten und Verantwortungen, die alle am Leben erhalten haben.
    Die meisten Geschichten über Vista vor der Rückkehr sind mittlerweile verloren. Niemand interessiert sich für die Menschen, die vor uns da waren. Wir sind eine Sackgasse. Wir existieren weit weg vom Kern des Protektorats, sind in Vergessenheit geraten. Händler kommen selten her und Besucher nur, wenn sie gar nicht anders können oder einen Fehler gemacht haben. Nur die Rekruter sind regelmäßig bei uns, sie holen sich jedes Jahr ihre Abgaben: Steuern für das Protektorat, Soldaten für den nie endenden Krieg gegen die Mudo. Und sie achten darauf, dass wir unsere Pflicht tun und den Leuchtturm in Betrieb halten.
    Der Leuchtturm ragt auf der äußersten Spitze der Halbinsel auf, durch ein Waldstück abgeschirmt vom Rest der Stadt. Es ist eine Erleichterung, so weit draußen zu leben, weg vom Drängen und Schieben des täglichen Lebens. Die meisten Leute machen sich nie die Mühe, den Pfad durch den Wald und am Zaun vorbei zum Strand zu gehen. Sie haben zu viel Angst vor dem Meer, wo der Tod sich aus den Wellen erheben kann.
    Ich habe meine Mutter einmal gefragt, ob sie Angst hätte, hier am Ende des Zauns zu leben. Sie sagte, jemand müsse den Leuchtturm in Betrieb halten und die Strände überwachen, um die Mudo wegzuschaffen, die bei Springfluten an den Strand gespült werden.
    Wir standen auf der Galerie, die Sonne flammte über den Dächern der Vor-Rückkehr-Gebäude von Vista auf. Sie legte ihre Hände schützend über die Augen und schaute über die Stadt hinweg, über den Fluss und in den Wald, der sich bis zu den Bergen hinzog, die in weiter Ferne lagen.
    »Es sind nicht immer die draußen auf dem Wasser, die einen Anker brauchen«, sagte sie. »Manchmal brauchen auch andere Gewissheit, dass es da draußen eine Welt

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