Das Meer Der Tausend Seelen
mich herausgefordert hatte, den breiten Fluss zu überqueren, der unsere Stadt vom Wald trennt. Wir hatten Wasser geholt – an einer Stelle, an der ein Loch im Zaun war. Der diensthabende Milizionär war plötzlich krank geworden und hatte uns allein gelassen. Damals hatte Cira sich über mich lustig gemacht, weil ich es nicht versuchen wollte. Weil ich zu viel Angst davor hatte, dass der Soldat zurückkommen und uns erwischen könnte, und weil ich nicht gegen die Regel verstoßen wollte, die uns verbot, in den Wald zu gehen.
Schließlich war sie allein gegangen. Sie stand mitten im reißenden Wasser, ihr Rock bauschte sich um die Knie, und als sie lachte, wehte ihr das Haar in den Mund.
Ich hatte ihr nie erklären können, wie ich die Grenzen unserer Stadt empfand. Für mich waren sie unantastbar. Sie waren das, was mir Halt gab, Sicherheit und Schutz – was mich behütete. Auch nur ein einziges Mal diese Grenzen zu übertreten, war für mich undenkbar.
Ich konnte ihr nicht erklären, dass ich Angst hatte, mich selbst zu verlieren. Auch jetzt kann ich es nicht. Aber irgendwie weiß sie es.
Sie zieht sich etwas vom Hals. »Hier«, sagt sie. »Nimm das.« Es ist die Halskette, die sie immer trägt, eine einfache schwarze Kordel, die um den Arm einer kleinen Plastikfigur geschlungen ist. Ein Superheld. Den hat sie einem Händler abgekauft, der Geschichten von Männern erzählte, die fliegen können und die Welt retten. Sie legt mir die Kette um.
»Er wird dich beschützen«, sagt sie, als ich unter dem Hemd das geringe Gewicht des Anhängers auf meiner Brust spüre.
Gerade will ich protestieren, da tritt Catcher dicht an mich heran. Ich schlucke angestrengt. Cira grinst und verschwindet in der Dunkelheit. Ihr Bruder ist meine Schwäche, das weiß sie. »Du solltest mitkommen«, sagt er. Er legt beide Hände an die Barriere, seine Finger könnten meine fast streifen. Er spricht so leise, dass seine Stimme ein Raunen in der Dunkelheit ist, mehr Schwingung als Wort. »Ich möchte, dass du mit uns kommst.«
Ich habe Angst, etwas zu sagen und diesen Augenblick zu zerstören. Deshalb nicke ich. Er lächelt, als hätten wir ein Geheimnis miteinander, und ich senke den Kopf, weil mir jedes der mich überwältigenden Gefühle peinlich ist.
Cira hat unseren Austausch natürlich beobachtet. Sie packt meine Schultern voller Aufregung, weil ich mich endlich habe erweichen lassen. Catchers Lächeln wird ein bisschen strahlender, und ich wünschte, ich könnte ihm in die Augen schauen.
Der Mond steht voll und leuchtend am Himmel, als der Rest der Gruppe losklettert und sich mühelos über die dicke Holzwand schwingt, die Vista von den zerfallenden Ruinen der alten Stadt dahinter trennt. Sogar Cira zögert eine Sekunde, blickt sich rasch zu mir um, dann findet sie ein paar Spalten, in die sie ihre schmalen Hände schieben kann. Schließlich stehen nur noch Catcher und ich vor der hoch aufragenden Wand.
Ich rücke meinen Zopf zurück und umklammere den Griff des langen Messers, das ich an der Hüfte trage. Ich weiß, ich sollte das nicht tun. Es ist gefährlich und dumm. Ich werfe einen Blick auf Catcher und muss mich abwenden, um mein irres Lächeln zu verbergen.
Ich will ihm sagen, dass ich die Barriere noch nie zuvor überschritten habe, es nie wollte – ich will es noch immer nicht. Ich habe nur oben auf dem Leuchtturm gestanden, in dem ich wohne, und sogar dann war ich überwältigt, wenn ich aufs Meer und den Wald hinausgeschaut habe und auf die Weite der Welt um uns herum. Als ob das alles so unfassbar viel wäre.
Ich denke an meine Mutter und ihre Geschichten darüber, wie es war, im Wald aufzuwachsen und sich den Weg zum Meer zu suchen. Und in diesem Augenblick, in dem ich am Rand all dessen stehe, was ich bisher gekannt habe, wird mir klar, dass ich nicht die Kraft meiner Mutter habe. Ich bringe es nicht fertig, Vista zu verlassen, nicht einmal für ein paar Stunden in der Dunkelheit.
Mühsam zwinge ich mich voran und taste mit den Fingern an der Barriere entlang. Das Holz ist warm, es speichert noch die Hitze des Sommernachmittags.
»Tut mir leid«, flüstere ich ihm zu und wende mich von der Wand ab. »Ich kann das nicht.« Vor diesem Moment waren mir meine eigenen Grenzen nie bewusst geworden. Vorher hatte ich immer gedacht, ich könnte alles tun … alles sein.
Catcher legt seine Hand in meine und hält mich fest.
Seine Haut ist wärmer als die Barriere. »Ich helfe dir«, sagt er. Sein Lächeln ist wie
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