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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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über dem Gesicht der Frau – dann zieht sie sie zurück.
    Und ich begreife, dass ihr diese Frau, diese x-beliebige Mudo am Strand, etwas bedeutet hat. Plötzlich kommt mir meine Mutter wie eine Fremde vor. Mein ganzes Leben war ich mit ihr zusammen, meine ganze Existenz hat sich um sie gedreht, und doch gibt es so viel, das ich nicht weiß.
    »Wer war sie?«, frage ich.
    Meine Mutter schaut mich nicht an, sie beobachtet nur, wie das Wasser an den Fingern der Mudo leckt.
    Die Worte gehen ihr im Kopf herum, das merke ich, sie versucht sich zu überlegen, was sie mir sagen soll. Und deshalb fühle ich mich nur noch mehr wie eine Fremde.
    »Niemand«, sagt sie schließlich. Im Krachen der Wellen ist ihre Stimme kaum zu hören. »Sie ist niemand. Nur …« Sie räuspert sich. »Sie hat mich an jemanden von dort erinnert, wo ich aufgewachsen bin.«
    Sie spricht wie in einer Art Trance. Ich beobachte, wie sie die Frau anstarrt, und denke an Catcher. Überlege, wie es sein wird, wenn es so weit ist. Ob es mir wohl genauso schwerfallen wird wie meiner Mutter, den letzten Schlag zu tun?
    Schon bei dem Gedanken daran tut alles weh – und vielleicht verstehe ich ihr Zögern jetzt.
    »Wie gehst du damit um?«, frage ich sie. Ich muss es unbedingt wissen, ich brauche die Hilfe meiner Mutter, um den Schmerz in mir zu lindern. »Was macht man, wenn sich jemand wandelt, den man liebt oder glaubt zu lieben oder lieben könnte?«
    Sie schaut mich an, ihr Blick ist immer noch so fern, doch ich sehe, wie sie langsam wieder in unsere Welt zurückkehrt.
    »Alles wird gut, Gabrielle. Ich bin in Sicherheit. Wir sind beide sicher. Uns passiert nichts.«
    Aber ich schüttele den Kopf. Sie versteht es nicht, und ich weiß nicht, wie ich ihr von Catcher erzählen soll, und was er mir jetzt bedeutet, was ihm zugestoßen ist, und dass ich mich mit den anderen heimlich über die Barriere geschlichen habe.
    Schweigen, das Rauschen der Wellen, die ans Ufer schlagen – und meine Mutter schaut zu, wie das Wasser an der toten Mudo zerrt. Dann sagt sie: »Du wirst lernen, wie man loslässt. Du vergisst es, bis alles wieder in Ordnung ist.«
    Eine Zeit lang brechen die Wellen zwischen uns, langsam verblasst das letzte Sonnenlicht. Und immer wieder durchlebe ich die letzte Nacht, sehe vor mir, wie sich Catchers Gesicht auf meines zu bewegt, spüre das erwartungsvolle Kribbeln im Bauch. Ich denke an all die Blicke und daran, wie oft er seine Hand auf meine gelegt hat. Ich schließe die Augen und will mich an seinen Geruch erinnern, aber das Salz in der Luft zerfrisst alles.
    Ich versuche all diese Einzelheiten zu vergessen, sie wegzuschieben ins Nichts. Doch je mehr ich mich bemühe, sie loszulassen, umso schneller tauchen alte Bilder auf, die mir durch den Kopf rasen.
    Was nützen Erfahrungen, wenn wir uns nicht an sie erinnern dürfen? Wenn wir sie vergessen, um den Schmerz des Verlusts zu vermeiden? Welchen Sinn hat das Leben denn, wenn wir uns immer vor etwas schützen müssen?
    »Ich weiß nicht, ob ich das will«, sage ich und schüttele langsam den Kopf. Wir bestehen aus Erinnerungen und Erfahrungen, die man teilt. Das ist es, was uns alle aneinander bindet.
    Meine Mutter bückt sich und sucht den Sand ab, bis sie eine Muschel findet, die rosig schimmert wie der in den Sonnenuntergang getauchte Himmel. »Das müssen wir tun, um zu überleben«, sagt sie schließlich. Mit dem Finger fährt sie an den scharfen Kanten der Muschel entlang. »Es hat keinen Zweck, an Erinnerungen festzuhalten, die uns nur Schmerzen bereiten.«
    »Was hat es denn für einen Sinn, überhaupt Erinnerungen zu schaffen?«, frage ich hitzig. Meine Schultern verkrampfen sich, weil ich aufgewühlt bin. »Was soll das denn alles, wenn wir doch nur immer alles vergessen müssen?« In meinem Kopf beginnt sich ein Gedanke zu entfalten, und ich zwinge mich, ihn in Worte zu fassen. »Würdest du mich vergessen, wenn etwas passieren würde?«
    Ihre Augen weiten sich. »Nein«, antwortet sie keuchend. »Natürlich nicht.«
    »Aber wenn ich nun heute Morgen bei den anderen auf dem Podium gewesen wäre?« Ich denke an Catcher und sage: »Was, wenn ich eine von denen gewesen wäre, die letzte Nacht nicht nach Hause gekommen sind?«
    »Ich würde dir hinterhergehen«, sagt sie, packt meinen Arm und dreht mich zu sich um. »Ich würde dich nicht einfach so gehen lassen. Ich würde dich um alles in der Welt finden.«
    Ich wäge meine Worte ab und spreche sie vorsichtig aus: »Wenn dir also

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