Das Meer Der Tausend Seelen
draußen zu finden. Nur, dass jetzt keine Chance besteht, unter den scharfen Blicken der Miliz über die Barriere klettern. Wie soll ich mich da auf die Suche nach Catcher machen, geschweige denn ihn finden?
Als ich weggerannt bin, war er noch bei den anderen, und der Biss war allem Anschein nach nicht so heftig, dass er ihn innerhalb kurzer Zeit töten könnte. Also besteht die Chance, dass er lebt und sich noch nicht gewandelt hat. Wenn die Miliz ihn nicht gefunden hat, bedeutet das: Er will nicht gefunden werden. Vermutlich ist er weggelaufen wie ich, allerdings ist er nicht wieder hinter die Barrieren zurückgekommen. Irgendetwas stimmt also nicht.
Ich presse meine Finger an die Schläfen. Wie dumm von mir, auch nur daran zu denken, über die Barriere zu klettern. Der Vorsitzende hat klargemacht, wie so etwas geahndet wird. Außerdem, was würde passieren, wenn Catcher sich schon gewandelt hat? Ich wäre so gut wie tot, wenn ich ihn fände.
Zum Schutz vor der Sonne schließe ich die Augen und versuche die Geräusche der Stadt auszublenden. Doch auch die Finsternis in mir kann mich nicht davon abhalten, an die letzte Nacht zu denken. Die Bilder ziehen einerseits rasend schnell, andererseits wie in Zeitlupe an mir vorbei.
Der Breaker, die Panik, der rennende Catcher, der gegen sie kämpft – der Mellie tötet.
Als ich gesehen habe, wie schnell der Breaker ist, habe ich begriffen, warum unsere Welt sich nie wieder von der Rückkehr erholt hat. Selbst wenn wir die Mudo zurückschlagen, kann der Funke der Ansteckung sich entzünden und von Neuem wüten. Alle Geschichten, die wir in der Schule gehört haben, von Städten, die von Mudo befreit worden waren, in denen dann einer entdeckt wurde, der in einem Wandschrank eingeschlossen war oder im Sturm aus dem Meer oder einem See gezogen wurde, ergeben erst jetzt einen Sinn, nachdem ich gesehen habe, was gestern Nacht passiert ist.
Eine Hand fällt auf meine Schulter, ich zucke zusammen, unterdrücke einen Schrei. Ich mache die Augen auf, einer der Milizionäre steht vor mir. Ich kenne ihn aus der Schulzeit – er heißt Daniel und ist älter als ich. Die meisten seiner Freunde haben sich in den letzten Jahren den Rekrutern angeschlossen, aber ihn haben sie zurückgelassen, weil er mit einem verkrüppelten Bein geboren wurde und hinkt.
»Tut mir leid, Gabrielle«, sagt er. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Ich blinzele ihn an, bin erstaunt, dass er mich bei meinem Namen nennt, denn wir haben bisher kaum miteinander geredet. »Nein, ich habe … vor mich hin geträumt. Ich hätte aufmerksamer sein müssen.«
Er lächelt schüchtern. »Heute ist ein Läufer vom Protektorat in der Dunklen Stadt gekommen, er hat eine Lieferung für deine Mutter mitgebracht. Ich habe dich hier stehen sehen und dachte, du möchtest ihr die Sachen vielleicht mitnehmen, damit sie nicht darauf warten muss, bis sie ausgeliefert werden.«
Er hält mir eine kleine Schachtel hin, deren Deckel halb aufgerissen ist. Er sagt nichts, und um das Schweigen zu füllen, schaue ich mir das Sortiment von Zahnrädern und Bolzen an, Ersatzteile zur Instandhaltung und Reparatur des Leuchtturms. Daniel beugt sich weit zu mir hinüber, um sich den Paketinhalt anzusehen. Einen Moment lang denke ich an Catcher, daran, wie er sich an mich gelehnt hat, als wir miteinander geredet haben.
Meine Hände fangen an zu zittern, in der Schachtel klappert es, und ich trete einen Schritt zurück, um Abstand zu den Erinnerungen zu schaffen.
Daniel macht ein langes Gesicht, und sofort habe ich ein schlechtes Gewissen. In der Schule ist er immer gehänselt worden, und jetzt zieht er die Schultern hoch, als würde er Schläge erwarten.
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich muss nur immer an meine Freunde denken.« Ich wende den Blick nicht von den Zahnrädern und ihren kleinen scharfen Spitzen ab.
»Oh«, sagt er. Er zögert. »Die von letzter Nacht waren deine Freunde?«
Ich nicke. »Irgendwie schon, glaube ich.«
»Du warst so klug, nicht mit ihnen über die Barriere zu klettern.«
Ich spüre wieder, wie mir die Hitze den Nacken hochkriecht, fühle, wie sie mir die Haut versengt. Angst und Schmerz und Scham dünsten aus mir aus wie Gestank.
»Aber wenn du mich fragst«, fährt er fort, »zu den Rekrutern geschickt zu werden, ist eher eine Ehre als eine Strafe.«
»Es ist der Tod«, sage ich, ehe ich mich zurückhalten kann. »Es ist dumm.« Meine Wangen laufen rot an, ich erschrecke, weil ich so aufgebracht
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