Das Meer in deinem Namen
sagte Myra.
Hm. Myra vermisste sicher Henny, hatte seit ihrem Tod niemand Gleichgesinntes mehr zum Reden. Tante Alissa jedoch hatte außer Teresa, mit der sie sich dann verkracht hatte, nie eine andere Freundin gehabt. Und jetzt ausgerechnet die kratzbürstige Myra Webelhuth? Aber was wusste sie schon? Seit heute schien alles möglich.
Was war es an diesem Land, dass sich hier die Menschen so anders zueinander verhielten? Auch sie selbst hatte hier anders und schneller Freundschaften geschlossen als jemals irgendwo zuvor. Lag es an der offenen Weite über dem Meer?
Flankiert von Myra, die entschlossen, aufrecht und mit festen Schritten ging wie ein Bodyguard, und Carly, die im Zweifel war, ob das nicht zu viel auf einmal für Tante Alissa sein könnte, stieg diese mit zusammengepressten Lippen den Deich hinauf.
„Warte“, sagte Carly, kurz ehe das Wasser in Sicht kam. Sie holte etwas aus ihrer Rocktasche und hielt es Tante Alissa hin.
„Wenn du das Blog gelesen hast, weißt du ja, was das ist.“
„Joram Grafunders Westentaschenharke!“
„Genau. Steck sie ein, dann kannst du der See zeigen, was ‘ne Harke ist! Bei mir hat es auch funktioniert.“
Myra rümpfte die Nase, sagte aber nichts.
Tante Alissa lächelte etwas verkrampft und steckte die kleine Harke in ihre Jackentasche.
„Na, dann kann ja nichts schiefgehen. Auf!“
Ein Schritt noch zwischen den Kiefern hervor über den Dünenkamm, dann öffnete sich der Horizont vor ihnen.
Am Himmel trieben einige rötliche Wolken auf einem leichten, kühlen Frühherbstwind, der nach Tang und sterbenden Blättern roch. Die Sonne war dabei, wesentlich früher und weiter links unterzugehen als vor zwei Wochen noch.
Rotgolden schimmernd breitete sich das Meer zu ihren Füßen. Die Wellen unterbrachen ihre uralte Erzählung nicht, kamen angesichts des Wunders von Tante Alissa am Strand nicht einmal ins Stocken. Weder Henny, Nicholas oder Myra hatten sie je aus dem Rhythmus gebracht, und auch sonst nichts und niemand, auch keine Katastrophen an diesem oder einem fernen Ufer. Sie waren immer da gewesen und würden es immer sein. Wie beruhigend, fand Carly.
Tante Alissa blieb stehen, atmete tief ein. Ihre Hände waren an ihren Seiten zu Fäusten geballt, aber dann entspannten sie sich.
Sie ging weiter, ihre Begleiterinnen wachsam neben sich, hockte sich schließlich hin, den Blick auf den Horizont geheftet, ließ Sand durch ihre Finger rinnen, schwieg lange.
„Alles in Ordnung?“, fragte Carly endlich leise.
Tante Alissa sah sie an wie jemand, der aus einem langen Traum erwacht.
„Ja. Es ist – alles gut! Traurig. Wehmütig. Vertraut. Schön. Aber nicht beängstigend. Tatsächlich nicht beängstigend! Das hätte ich nie erwartet.“ Sie nahm die kleine Harke aus der Tasche, hielt sie in Richtung Sonne und betrachtete sie mit einem zusammengekniffenen Auge, gab sie dann Carly zurück.
„Entweder hat die funktioniert oder ich brauche sie nicht. Irgendwo auf dem Weg muss ich meine Angst verloren haben und habe es nicht gemerkt.“
„Das ist meistens so“, sagte Myra.
Tante Alissa zog die Schuhe aus, lief zum Flutsaum, spazierte noch etwas vorsichtig daran entlang, dann mit den Füßen im Wasser. Die Wellen wurden flacher, als wollten sie Tante Alissa nicht doch noch erschrecken.
Die anderen folgten ihr wachsam. Als die Sonne den Horizont berührte, zogen sie die Schuhe wieder an und setzten sich nebeneinander an den Fuß der Düne.
„So schön prickeln die Füße nur, wenn es kalt wird“, sagte Myra. „Man fühlt sich so lebendig.“
„Ja. Ich hatte vergessen, wie großartig es sich anfühlt. Aber ich will es nie wieder vergessen. Wir haben das Meer alle drei geliebt, weißt du, Kai, Nelia und ich.“ Tante Alissas Hände spielten mit einer Muschel. „Es ist kein Wunder, Carly, dass du immer Sehnsucht danach hattest. Du hättest nicht in der Ahnentafel nach Fischern oder Seefahrern suchen müssen, um dir das zu erklären. Du hast es von deinen Eltern. Nicht umsonst waren sie beide Biologen. Die Veröffentlichungen deines Vaters über Meeresbiologie waren hoch angesehen, und deine Mutter war nie glücklicher, als wenn sie ihren Schülern die Flora und Fauna des Salzwassers beibringen konnte.“
„Ich konnte dich ja nicht danach fragen. Du bist immer ausgewichen, und es hat dich traurig gemacht. Ich wollte dich nicht traurig machen.“
„Ich weiß. Aber jetzt kannst du mich fragen.“
Myra saß schweigend. Seltsam, aber ihre Gegenwart
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