Das Meer in deinem Namen
ihn annehmen. Es wird Zeit, die alten Ängste loszuwerden. Mach dir bitte keine Sorgen, ich passe gut auf mich auf.“
Stattdessen hatte sie das erst verschwiegen und dann am Telefon auch noch gelogen. Das hatte Tante Alissa wahrlich nicht verdient. Carly fühlte sich hundsmiserabel. Nass und verfroren wie sie war und nach der Aufregung der letzten Tage gaben alle Dämme nach. Sie warf sich Tante Alissa in die Arme und brach an ihrer Schulter in Tränen aus.
„E-e-es tut mir so leid! Ich hätte es dir sagen sollen, ich weiß auch nicht, ich wollte dir keine Angst machen, aber es war fies von mir ...“
Tante Alissa drückte sie verblüfft, aber fest an sich.
„Schon gut, Fischchen, es ist mindestens genauso meine Schuld, dass du dachtest, du kannst mir das nicht zumuten. Jetzt putzt du dir erst mal die Nase ...“
Tante Alissa schob Carly ein Stück von sich und suchte in ihrer Tasche. Carly musste unter Tränen lachen. Tante Alissa hatte, ebenso wie sie, nie ein Taschentuch. Tränen waren in der Familie nicht üblich.
Carly wischte sich die Nase mit dem nassen Handtuch und erstarrte. Hatte ihre Tante sie gerade „Fischchen“ genannt? Natürlich, sie musste sich ja auch an den alten Spitznamen erinnern. Aber seit jenem katastrophalen Tag am Strand von Florida hatte sie ihn nie wieder benutzt.
„Jetzt gehst du heiß duschen und ziehst dich warm an. Ich mache solange in dieser wunderschönen Küche, die ich schon eine halbe Stunde durch das Fenster betrachtet habe, einen Tee für uns. Und dann wünsche ich mir, dass du mich an das Wasser begleitest. Ich denke, wir werden rechtzeitig zum Sonnenuntergang dort sein.“
War das wirklich ihre Tante? Die, die schon das bloße Wort „Wasser“ vermieden und sogar Fischstäbchen verbannt hatte? Carly schloss wortlos und verwirrt die Tür auf und trollte sich nach oben. Die heiße Dusche war himmlisch, aber in Carlys Kopf schaffte sie keine Klarheit.
Immer noch durcheinander als wäre ein Marsmännchen zur Tür hereinspaziert, zog sie sich Hennys wärmstes Kleid an und die Strickjacke oben drüber. Hennys Sachen gaben ihr auf geheimnisvolle Weise Kraft. Sie föhnte flüchtig ihre Haare einigermaßen trocken und schlich sich schließlich in die Küche wie früher, wenn sie etwas ausgefressen hatte.
Tanta Alissa warf einen erstaunten Blick auf das Kleid. Carly hatte immer auf ihren Jeans und Cordhosen bestanden.
„Steht dir gut. Hier.“ Sie drückte Carly eine dampfende Tasse in die Hand. „Schmeckt so gut wie beschrieben, dein Wellenschatten-Tee. Setz dich. Ich habe uns auch Brötchen geschmiert. Eine wirklich schöne Küche ist das. Was meinst du, da der Käufer das Haus sowieso gelegentlich an Feriengäste vermieten will, willst du ihn nicht fragen, ob er es im nächsten Sommer drei Wochen an uns vermietet? Ich könnte mit Franzl hier Urlaub machen, und du auch, wenn du magst. Das heißt, wenn ich nachher beim Anblick der See nicht in Ohnmacht falle. Ach, ich hatte vergessen, wie gut Kandiszucker schmeckt!“
Carly starrte mit offenem Mund ihre Tante an, die seelenruhig in ihrem Tee rührte.
„Tante Alissa, woher ...“
„Woher ich das alles weiß – wie Wellenschatten-Tee schmeckt und dass ein Käufer gefunden wurde – und dass du überhaupt hier bist?“ Tante Alissa schmunzelte. „Orje hat mir den Link zu deinem Blog geschickt.“
Carly verschüttete Tee.
„Aber ihr habt doch kein Internet auf dem Berg!“
„Denkst du. Sie haben ein Kabel gelegt und prompt hat mir mein Franzl einen Computer geschenkt, damit ich mit dem Museum in Berlin in Kontakt bleiben kann. Orje wusste das, weil ich dir eine Postkarte mit meiner eMail-Adresse nach Berlin geschickt habe. Ich habe mir eine ganze Nacht um die Ohren gehauen und das Blog gelesen.“ Tante Alissa hob einen strengen Finger. „Sei jetzt nicht böse auf Orje! Du magst das als Vertrauensbruch betrachten. Er aber hat es als Chance gesehen, dass wir uns endlich einmal aussprechen. Dass wir die alten Tabus unter dem Teppich lüften, und zwar am besten hier am Meer, ehe das Haus verkauft wird und du nach Berlin zurückkommst. Er fand außerdem, dass auch ich mich der Angst stellen sollte, nachdem es bei dir so gut geklappt hat. Er hatte selbst wahnsinnige Angst, deine Freundschaft zu verlieren, hat es aber trotzdem für das Beste gehalten. Du solltest ihn möglichst bald beruhigen.“
„Der kann dafür schon noch eine Weile zappeln!“ Carly war gleichzeitig empört und erleichtert. Jetzt war es
Weitere Kostenlose Bücher