Das Meer in deinem Namen
es überhaupt noch die richtige Straße? Sie musste stundenlang gelaufen sein. Wo lag Naurulokki? Aber sie konnte nicht einfach hier stehen bleiben. Also ging sie los; die Chance, die Richtung zu treffen, lag immerhin bei fünfzig Prozent.
Sie verlor jedes Zeitgefühl. Die Dämmerung schien nicht näher zu kommen, wahrscheinlich weil die Regenwolken stetig dunkler und schwerer wurden. Ein Auto fuhr vorbei, hielt, ein Mann stieg aus, ging ihr entgegen.
„Verzeihung, aber kann ich helfen ...?“ Er bückte sich, sah ihr unter ihrer Kapuze ins Gesicht. „Nanu – meine neue Nachbarin auf Zeit! Was, um Himmels willen, machen Sie hier?“
Jakob Hellmond! Was für ein Glück.
„Ich habe mich verirrt“, gab sie kleinlaut zu.
„Allerdings. Wenn Sie nach Hause wollen, ist das die falsche Richtung. Steigen Sie ein, ich fahre Sie.“
Ohne auf Antwort zu warten, fasste er sie am Arm und schob sie ins Auto.
„Aber Sie wollten doch irgendwohin?“
„Fischen. Ich wollte zum Hafen, wo mein Boot liegt. Aber das läuft nicht weg. Der Regen wird sowieso stärker, als ich dachte. Hier, trinken Sie davon.“ Er reichte ihr eine Thermoskanne.
Mit klammen Fingern schraubte sie den Deckel auf, goss sich einen Schluck ein. Tee, brandheiß, wie herrlich! Und wenn sie sich nicht irrte, verbarg sich ein dezenter Schuss Rum darin. Durch den Dampf aus der Kanne und dem aus ihren nassen Sachen zusammen mit ihrer aufsteigenden Müdigkeit sah sie Jakob Hellmond wie durch einen Nebel. Gedankenverloren betrachtete sie seine Hände auf dem Lenkrad. Schmale Hände für einen Fischer. Sie passten zu seinen karamellbonbonsanften Augen. Er fragte nicht, warum sie mitten im Regen in der Morgendämmerung auf der Straße herumlief, sondern schwieg angenehm. Am Tor von Naurulokki hielt er an. „Alles in Ordnung mit Ihnen oder soll ich Sie reinbringen?“
„Alles bestens. Vielen Dank für den Tee und fürs Bringen.“
„Kein Problem. Aber gehen Sie jetzt schlafen! Ich sehe morgen mal nach Ihnen. Anna-Lisa sagte, das Schild kann jetzt aufgehängt werden. Gute Nacht – oder besser, guten Morgen!“
Sie hatte das Treibholztor schon hinter sich geschlossen, da ließ er noch einmal das Fenster herunter.
„Übrigens, Carly – das Meer hat auf alles eine Antwort. Aber es hat auch sehr viel Zeit. Und Launen. Es dauert, ehe man sie hören kann.“ Ohne das Fenster wieder zu schließen, fuhr er an.
Langsam lief Carly den Abhang hinauf. Die regennasse Wiese duftete. Unter den Büschen zirpte eindringlich ein Chor Grillen. Verzaubert lauschte sie einen Moment. Von dieser feinen, melancholischen Musik am Ende des Sommers konnte sie nie genug bekommen.
Als sie die Tür aufschloss, hatte sie das Gefühl, noch nie an einem Ort und in einer Zeit so tief zuhause gewesen zu sein.
14. Kellerschätze
Fragend blinzelte Carly die Zimmerdecke an. Was für Spinnweben in den Ecken! Auch die Lampe da oben war ihr fremd. Schön. Zart, aus Papier, mit Möwen darauf. Die musste Henny gezeichnet haben ... Henny! Carly setzte sich auf. Jetzt wusste sie wieder, wo sie war. Gestern Nacht – nein, wohl eher heute Morgen, als das freundliche Schweigen von Naurulokki ihr beim Aufschließen der Haustür entgegengekommen war, hatte sie auf diese Stille lauschen wollen und herausfinden, warum sie sich auf einmal so geborgen darin fühlte. Sie war in das Wohnzimmer gegangen und hatte sich auf das Sofa gesetzt, weil sie auf einmal so müde war, dass ihr die Treppe unüberwindbar schien.
Dann musste sie eingeschlafen sein. Ihre Jeans waren von den Knien abwärts immer noch nass, ihre Beine waren steif. Von dem erstaunlichen Zuhausegefühl von gestern war nur ein schwaches Echo geblieben. Kalt war ihr auch. Mühsam rappelte sie sich auf. Da half nur eins: eine heiße Dusche.
Sie kramte frische Wäsche aus ihrem Koffer, den sie noch nicht ausgepackt hatte, stellte sich dankbar unter den dünnen, aber wunderbar heißen Strahl. „Dusche entkalken“, machte sie sich eine mentale Notiz.
Im Schrank neben dem Waschbecken fand sie saubere, zitronenduftende Handtücher. Dabei fiel ihr ein, dass sie nach der Waschmaschine suchen musste, falls es hier eine gab. Vermutlich im Keller. Die Wäscheleine hatte sie im Garten schon entdeckt.
Neben den Handtüchern lag ein Stapel ordentlich zusammengelegter Baumwollkleider. Die hatte Henny offenbar am liebsten getragen; ein ähnliches hing im Schlafzimmer über dem Stuhl. Carly hatte auf einmal keine Lust auf Jeans. Sie nahm das
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